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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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Russland zu bringen«; ihre sündigen Vergnügungen mit der »Plünderung der Staatskassen« zu bezahlen. Aber seine Beschwerdeliste ist zu lang, als dass er all die eingeübten Worte behalten könnte. Auf die papierenen Phrasen folgen nur noch bruchstückhafte, ressentimentgeladene Anwürfe: »… du hast mich unablässig ausspioniert … du lachtest hinter meinem Rücken über mich … du ließt zu, dass deine Liebhaber mich demütigten … wenn ich einen Freund gefunden hatte, schicktest du ihn fort … du ließt mich nicht in den Krieg ziehen … nahmst mir meine Söhne weg …«
    Systematik war noch nie die Stärke ihres Sohns.
    Â 
    Geh zurück nach Gatschina, Paul. Kommandier deine Truppen herum. Hier gibt es nichts für dich.
    Â 
    Â»Hat die Kaiserin von Russland irgendetwas zu ihrer Verteidigung zu sagen?«, fragt Paul mit erhobener Stimme, was er offenbar für feierlich hält. Er ruckt mit dem Kopf, seine Lippen zucken.
    Â 
    Du hast mir Enkel geschenkt. Das einzig Gute, das je von dir gekommen ist. Alexander wird Russland regieren, wenn ich nicht mehr bin. Du wärst ein Tyrann geworden. Genauso wie der Mann, der sich dein Vater nannte.
    Â 
    Er wendet sich an jemanden hinter dem Wandschirm, einen sitzenden Schatten. »Keine Antwort«, sagt er im selben affektierten Ton.
    Ihre Augäpfel drehen sich nach oben, löschen die Anwesenheit ihres Sohns, seine Stimme kann sie jedoch nicht zum Schweigen bringen. »Schreib, dass die Kaiserin nichts zu den Anschuldigungen ihres Sohns zu sagen hat.«
    Hinter dem Wandschirm kratzt eine Feder über Papier.
    Â 
    3.10 Uhr
    Das Licht schwindet. Jemand nimmt ihr das Licht weg.
    Sie sind hier in diesem Zimmer. Sie starren sie an, spähen durch die Spionierlöcher, die Einwegspiegel. Horchen auf den unregelmäßigen Rhythmus ihres Atems. Sie wollen, dass sie allein ist. Im Dunkeln. Ihnen ausgeliefert.
    Jenen, die ihr Böses wünschten. Ihren Verleumdern.
    Es ist ihr Hunger, den sie fürchtet. Sie wollen ihr alles nehmen, was sie hat. Sie wollen das Himmelbett, in dem sie liegt, den Damast-Stuhl, das goldene Tuch. Sie wollen ihre Truhen, ihre Gemälde, ihre Medaillen, ihre Vasen und Urnen, ihr Service. Sie wollen ihre weichen Wollteppiche, ihre Kristalllüster, ihre Spiegel, die mit Elfenbein und Schildpatt gerahmt sind.
    Ihre Gemmen.
    Ihr Porzellan.
    Ihre Straußenfederfächer. Die Rubine aus ihrer Krone.
    Sie wollen alles, was sie jemals berührt hat.
    Gierige, verschwitzte Hände. Schmierige Finger. Die krallen und schnappen. Kreischend, schubsend, grabschend. Mit Augen, die so hungrig sind wie ihre Bäuche. Sie warten auf den Moment, wenn sie nicht hinsieht. Einen Moment der Unachtsamkeit oder der Zufriedenheit.
    Sie haben ihre Sensen und ihre Schlachtermesser an einem Schleifstein geschärft. Sie malen sich aus, wie sie ihr die Kehle durchschneiden. Oder ihr ein Messer durch die Brust stoßen, direkt in ihr schlagendes Herz. So dass sie blutet wie eine geschlachtete Sau. Wie sie die Kinder eins nach dem anderen mit dem Bajonett aufschlitzen.
    Â 
    Halte sie auf, hört sie Grischenkas Stimme aus weiter Ferne. Jetzt, Katinka. Solange noch Zeit ist.
    Â 
    3.30 Uhr
    Was ist gestern geschehen?
    Vor dem Schmerz. Vor dem Sturz?
    Â 
    Gestern wurde sie von der Kälte geweckt. Sie hatte sich in ihren Knochen eingenistet, sie schwer gemacht. Die Nacht muss bitterkalt gewesen sein. Anjetschka, die solche winterlichen Tage seit jeher beschwerlich findet, hat sie ihren dicken, wattierten Morgenmantel mit Silberfuchsbesatz anziehen lassen.
    Â 
    Jemand war hier, um mich zu sehen.
    Le Noiraud!
    Was wollte er?
    Â 
    Ihr Liebhaber hat sich auf seine Ellbogen gestützt und lächelt sie an. Seine Hände gleiten spielerisch über das Laken, Finger krümmen und strecken sich wie die Krallen einer Katze. Als er den Kopf senkt, fällt ihm eine rabenschwarze Locke in die Stirn. Er schiebt sie wie immer ungeduldig zurück.
    Sein Haar ist weich und doch dicht. Köstlich.
    Er zupft an etwas auf dem Laken, als wäre es Schorf auf einer verheilten Wunde. Sie presst sein Gesicht an ihre Brust. Er wehrt sich erst und gibt dann ihrem Druck nach, küsst das Stück freiliegende Haut. Als er spricht, klingt es dumpf. Er spricht von Schlachten und Belagerungen, von Festungen, die ihre Schätze preisgeben. »Warum lässt du mich

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