Die Zarin (German Edition)
begann mit einem Verbrechen. Mit dem Beginn meines Lebens meine ich nicht den Augenblick meiner Geburt. Wer erinnert sich schon genau an seine frühen Jahre? Über das Leben als Leibeigene, als Seele, ist es besser, eher nichts als nur wenig zu wissen! Unser Dasein als deutsche Seelen in russischem Kirchenbesitz, dem Zerkowny , war noch viel elender als man es je beschreiben kann. Das Leben der nemzy war so hart und steinig wie die Erde auf der staubigen Straße in meinem Dorf. Wo lag der elende kleine Ort, in dem ich aufwuchs? Ich weiß es nicht. Er ist verloren in den Weiten Livlands, ein Dorf und ein Land, die es nicht mehr gibt. Stehen seine Hütten noch? Es kümmert mich nicht, was aus diesen wenigen armseligen isby und auch aus der Straße selber geworden ist. Ich habe in meinem Herzen eine Heimat gefunden.
Damals jedoch, als ich jung war, endete mit dem Grund der letzten isba auch meine Welt. Wie die Russen verwendeten wir so für unsere kleine Gemeinschaft und die Welt ein und dasselbe Wort: mir . Die gewundene und festgetretene Straße in unserem mir hielt unser Leben zusammen wie ein Gürtel unsere losen Sarafane. Der Sommer verwandelte sie in Wolken von aufgewirbeltem, rotem Staub, der sich in die Haut unserer bloßen Füße fraß, uns husten und blind werden ließ. Im Lenz und im Herbst, nach der Schmelze und dem ersten großen Regen, wateten wir darauf bis zu den Knien im Matsch von unserer isba zu den Feldern und dem Fluß. Im Winter dagegen versanken wir bei jedem Schritt bis zum Oberschenkel im Schnee, oder wir rutschten auf spiegelglattem Eis nach Hause.
Dann und wann rollte ein vollgeladener Karren durch das Dorf, vor den Rosse mit langen Mähnen und schweren Hufen gespannt waren. Er lud Waren am Kloster ab und wieder andere Güter auf, die auf den Markt gebracht wurden. Ansonsten geschah nicht viel. Hühner und Schweine liefen über die Straße, und der Dreck hing ihnen fest in den Federn und den Borsten. Schmutzige Kinder mit wildem, verfilztem Laushaar spielten dort, solange sie noch zu jung waren, um auf den Feldern auszuhelfen oder an den Flachsspindeln und Knüpfballen des Klosters zu sitzen. Der Ernst unseres Daseins als »Seelen« holte uns schon in jungen Jahren ein: Die Fingerkuppen waren von der Arbeit verkrustet, und die Fliegen saßen in den Augen, ohne daß wir uns noch darum scherten, sie zu verjagen.
In den niedrigen, verrauchten isby befanden wir uns nur zum Essen und zum Schlafen. Unser Heim war so nur mit den wenigen Augenblicken der Rast in unserem Leben verbunden. Die Hütten standen zurückgesetzt und ohne erkenntliche Ordnung vor ihren kleinen Gemüsegärten und dem Wasserloch jeder Familie. Unser mir sah eben genauso aus wie viele andere kleine Dörfer in Livland und den umliegenden baltischen Provinzen. Dort, in jenem Dreieck aus Ländern, das eigentlich vor langer Zeit dem Papst und auch den Deutschen gehört hatte. Doch schon bald mischten sich dort Polen, Letten, Russen, Schweden und Deutsche in einem mehr oder minder friedlichen Zusammenleben. Damals.
An einem Tag im April kurz vor der Wende des Jahrhunderts – nach dem Kalender, den der Zar Peter eingeführt hatte, muß es das Jahr 1699 gewesen sein – liefen meine jüngere Schwester Christina und ich diese Straße hinunter. Nach der letzten flachen, geduckten isba aus Holz, Lehm und Stroh weitete sich die Straße und wand sich an den Feldern vorbei zum Fluß hin. Die Luft an jenem Tag strich weich über unsere Haut, und sie roch süß nach dem größten Wunder unserer baltischen Länder, der ottepel . Wer die große Schmelze nie erlebt hat, kann auch unser Wesen nicht verstehen. Unser Gemüt ruht durch den Winter hindurch wie der flache Atem eines Bären, der das Fett unter seinem Fell bis zum Frühjahr aufbraucht. Die lange Jahreszeit und ihr bleiernes Licht legten sich wie eine Decke auf unseren Geist. Der mir versank in einer schlaffen und stumpfsinnigen Düsterkeit, durch die Schwaden von Wodka und kwas trieben. Wir lebten von ungesäuerten Brotfladen, Speckrinden, die in der Bohnensuppe große Fettaugen formten, Griebenbrei, Hirsekuchen und dem salzigen Kraut, das wir im Herbst in rauhen Mengen kleinschnitten, salzten und einstampften. Jeden Tag gab es dieses Kraut. Es gab uns Kraft für die Kälte, die den Schleim im Rachen gefrieren läßt, ehe man ihn ausspucken kann. Gerade wenn der Schnee, die Kälte und der Reif uns zur unendlichen, unerträglichen Gewohnheit werden, schwinden sie unmerklich. Jeden
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