Die Zarin (German Edition)
langen, dunklen Winter wollten wir nicht glauben, daß sich die ottepel noch einmal wiederholen sollte: Wir erschraken dann zuerst vor dem mächtigen Krachen, mit welchem auf der Vaïna die Eisplatten auseinanderbrechen. Die Wasser spritzen wild und befreit auf und treiben die Platten auf mächtigen Schnellen stromabwärts. Alles, was sich ihnen in den Weg stellt, wird von ihrer Gewalt niedergewalzt, und selbst die kleinsten Flüsse schwellen über ihre Ufer. Der späte Frühling brachte das erste Grün, die starken und schuppigen Fische der Vaïna und Kräuter aller Art. Er entfesselte kurze, fiebrige und oft wilde Sommermonate: Plötzlich war unsere karge Landschaft voller Leben, die Blätter an den Bäumen waren dicht und saftig, Schmetterlinge tanzten und torkelten in der Luft, und die Vögel sangen unbeirrt durch die weißen Nächte hindurch. Unsere Provinz war dann wie toll von einem plötzlichen Rausch der Fruchtbarkeit und des Lebens: Es begannen lange Tage und kurze Nächte.
Ich sollte in jenem Jahr meinen sechzehnten Geburtstag feiern, Christina war zwei Jahre jünger als ich. Sie tanzte vor mir durch den Staub, drehte sich um die eigene Achse und klatschte in die Hände: »Atme, Martha! Atme! Riech doch!« Sie hob ihre kleine Nase in die Luft. »Das Leben beginnt wieder!«
Ich lachte und versuchte, sie trotz des Bündels Wäsche in meinem Arm einzufangen, aber sie entzog sich geschickt meinem Griff. Wir sollten am Fluß Kleider waschen: Im vergangenen Mond noch hatten wir am Bottich hinter der isba das Eis aufhacken müssen! Es war so mühsam, zu schrubben und gleichzeitig die Eisstücke beiseite zu schieben. Außerdem froren wir uns die Hände blau dabei, und es formten sich häßliche Beulen unter der Haut, die nur schwer und unter Schmerzen heilten. So hatten wir an jenem Tag die Aufgabe doppelt gerne auf uns genommen: Denn wer wusch, mußte nicht auf die Felder. Im geheimen hatten wir beschlossen, nach der Arbeit zu baden, um schön zu sein für den Frühlingsmarkt am Ende derselben Woche.
Christina trug dabei keine Wäsche in ihrem Arm, denn sie war ja die Tochter der Frau meines Vaters. Ich dagegen war ihm von einem Mädchen im Nachbardorf neun Monate nach einem Frühlingstanz geboren worden. Da war er jedoch schon mit Elisabeth Rabe verlobt gewesen. So konnte er entgegen allen Sitten nicht dazu gezwungen werden, meine Mutter zu heiraten. Die Mönche stellten sich gegen die Familie meiner Mutter auf die Seite meines Vaters. Sie hatten die letzte Entscheidung über die Ehen, die in unserem mir geschlossen wurden, und sie wollten meinen Vater lieber mit einem Mädchen aus ihrem Eigentum verheiraten! Meine Mutter starb bei meiner Geburt und Elisabeth Rabe nahm mich an Kindes Statt an. Was sollte sie denn sonst tun? Die Familie meiner Mutter stand damals auf der Schwelle der isba und hielt dem Vater mein Bündel Leben entgegen. Wollte er mich nicht, so hätten sie mich bestimmt am Waldrand ausgesetzt.
Ich kann nicht sagen, daß Elisabeth Rabe mich wirklich schlecht behandelte. Ich mußte hart arbeiten, wie wir alle. Sie schlug mich nie – aber, wenn sie ärgerlich war, zog sie mich an den Haaren oder kniff mich hart in den Arm und zischte dann: »Du schlechtes Blut, du! Wer weiß schon, wo du wirklich herkommst? Schau’ dich doch an – deine Haare schwarz wie Rabenschwingen! Deine Mutter hab’ ich wohl gekannt, einem jeden Burschen ist sie nachgelaufen! Mit jedem hat sie sich hingelegt! Für so grüne Augen wie deine braucht es viele Männer, das weiß doch jeder! Paß’ nur auf, daß es dir nicht genauso ergeht!«
War mein Vater dann in der Stube, so sagte er nichts, sondern verließ unsere isba . Er sah dann sehr traurig aus – noch trauriger als sonst. Sein Rücken war von der Arbeit auf den Feldern des Klosters, als Fährmann auf der Vaïna oder über den Webstühlen der Mönche krumm gearbeitet. Traurig und zahnlos lachen konnte er nur noch nach einigen Bechern kwas . Der Wodka, den er sich an Festtagen leistete, brachte dann noch ein stumpfes Licht in seine eingefallenen Augen.
Christina tanzte zu mir hin, griff mich unter den Armen und wirbelte mich herum. Als wir zum Stehen kamen, drehten wir uns beide zur Sonne.
»Eins, zwei, drei – wer länger in die Sonne sehen kann!« lachte sie. »In den Flec ken in deinen Augen siehst du dann den Mann, den du heiraten wirst!«
Ich spürte ihren warmen Körper und schlang meinen freien Arm um ihre Schultern. Wir schlossen die Augen.
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