Die Zarin (German Edition)
einen Brief. In der Sänfte wartete bereits meine Hofdame Ulrike Villebois auf mich. Ich reichte ihr den Brief, damit sie ihn mir vorlesen konnte: Es war eine Nachricht vom Zarewitsch.
Alexej sandte seine Glückwünsche aus Deutschland zu unserer Hochzeit, von der er allerdings nur durch Dritte erfahren hatte. »Majestät, mit aller Freude habe ich vernommen, daß mein Vater Euch zu seiner rechtmäßigen Gattin erhoben hat und daß Ihr wieder ein Kind unter dem Herzen tragt. Erlaubt mir, meine allerherzlichsten Glückwünsche zu diesen freudigen Ereignissen auszusprechen. Erweist mir auch weiter die Ehre Eurer Gnade und Eurer Gunst. Ich wage es nicht, meinem Vater dieselben Glückwünsche auszusprechen, da der Zar es vorgezogen hat, mich im Unwissen über seine Entscheidung und sein Glück zu lassen. Versichert mich jedoch der Gewogenheit Seiner Majestät. Ich bin in Eurer Hand – wie immer, demütigst, Alexej.«
Ich hob abwehrend die Hand. »Genug. Ich habe genug gehört. Gib mir den Brief, Ulrike.«
Ulrike, die Tochter Ernst Glücks, die seit einigen Monaten meine Hofdame war, faltete das zarte Papier sorgsam zusammen und reichte es mir. Wir schaukelten mittlerweile in einem Troß von mehreren Sänften den Newakai entlang. Unser Ziel war die Anlegestelle der Schiffe, wo Schlüter ankommen sollte. Ich hielt mir den Bogen Papier an die Nase und schnupperte. Ulrike musterte mich erstaunt, als ich die Nase krauszog. »Es riecht nach Suff. Der Zarewitsch war wieder berauscht, als er das geschrieben hat …«, sagte ich angewidert. »Lernen soll er, nicht saufen!« konnte ich mich nicht zurückhalten hinzuzufügen.
Ulrike senkte die Augen. Erst vor einigen Wochen hatte ich sie sehr vorteilhaft dem Admiral Villebois angetraut. Admiral Villebois mochte der jungen Ulrike auf den ersten Blick nicht als die beste Wahl erscheinen: Er hatte bereits eisgraues Haar. Durch einen Kampf zur See hatte er zudem ein Auge verloren, und sein vom Wetter gegerbtes Gesicht war von Narben durchzogen.
Der alte Haudegen aber gehorchte der zarten, hübschen Pfarrerstochter aufs Wort.
Ich schob mir den Brief in den Ärmel und sah aus dem Fenster, um gegen die aufkommende Übelkeit anzukämpfen: Die Luft in der Sänfte war stickig, denn durch das kleine Fenster darin zog keine Brise. Die schon hochstehende Sonne ließ den nun trockenen Sumpf um die Stadt bis zum Himmel stinken. Es war erst Mai, aber das Wetter zeigte sich in jenem Jahr noch launischer als sonst in dieser Jahreszeit in Sankt Petersburg! An einem Tag mußte ich mich zum Schutz gegen die Kälte in Pelze hüllen, am nächsten konnte ich wegen des starken Regens nicht in den knospenden Gärten des Sommerpalastes spazierengehen. Heute jedoch schien der rote Matsch der Wege von der Hitze des Morgens bereits fest geworden. Schon früh am Tag tanzten die Mücken in der Luft und ließen sich wie ein grausamer Schleier auf ihre Opfer nieder. Ich atmete tief durch und versuchte, meinen Blick auf einen festen Punkt zu richten. So konnte ich normalerweise meiner Übelkeit Herr werden.
Unsere Träger wichen gerade geschickt einer Gruppe von Männern aus, die Stein für Stein zum Bau der Peter-und-Pauls-Kathedrale den Kai entlangschleppten. Sie luden die Brocken auf Kähne, die bereits tief im Wasser lagen. Die Fuhrmänner hielten in der Strömung bei der Überfahrt zur Festung nur mit Mühe ihren Kurs. Diese Kathedrale sollte ein Bau werden, der auf der uns bekannten Welt seinesgleichen suchte! Domenico Trezzini hatte jede Einzelheit genau geplant: von dem hohen, spitzen Turm der Kathedrale, der den Blick bis nach Finnland ermöglichen sollte, bis hin zu der erlesenen Ausstattung im Inneren der Kathedrale. Peter hatte bestimmt, daß von nun an alle Mitglieder der Zarenfamilie darin begraben werden sollten. So sah ich hin über zu der vor Arbeitern wimmelnden Baustelle, zu den trutzigen, roten Mauern der Peter-und-Pauls-Festung und dachte: Dort wird auch mein Grab sein.
Einige der unglücklichen Arbeiter starrten mit leeren Augen zu uns in die Sänfte. Ein Mann wankte unter seiner Last an Steinen: Er hatte sich eine Schlaufe aus gewachstem Leinen um die Stirn gelegt und hielt so die Brocken auf seinem Rücken im Gleichgewicht. Er ging tief vornübergebeugt, und seine Arme waren von Peitschenstriemen überzogen. Ihm fehlten sowohl die Nase als auch beide Ohren. An ihrer Stelle klafften vernarbte dunkle Löcher in seinem Schädel. Das bedeutete, daß er bereits zweimal versucht hatte, dem
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