Die Zarin (German Edition)
Joch der Zwangsarbeit zu entfliehen. Bei einem dritten Mal würde er hingerichtet werden. Ich zog den Vorhang aus Gaze vor das Fenster, um dem traurigen Anblick zu entgehen. Helfen konnte ich ihnen ja doch nicht.
Der Newakai wimmelte von Kindern, Tagelöhnern, die auf einen Auftrag warteten, Müßiggängern und Leuten, die geschäftig am Fluß entlangeilten. Sie schenkten den fliegenden Händlern, die ihre Stoffbuden dort aufgeschlagen hatten, keinen Blick. Der Duft nach süßen Pasteten und frischem Bier zog lockend in die Sänfte. Unsere Träger und die berittene Garde um sie herum drängelten sich ihren Weg zwischen anderen Sänften und Kutschen frei und hielten dann unwillig hinter einer Gruppe von Eseln, die schwer mit Säcken beladen einen Huf vor den anderen setzten. Ein Heuwagen voller Fässer und Pakete versperrte uns die Sicht auf den Kai, und die babuschky , die sich die Marktware auf ihre Schultern geladen hatten, wichen unseren Trägern nur im letzten Augenblick aus.
Entlang der Kaimauern drückten sich Matrosen und ihre Mädchen, deren Tugend mir nicht allzu standhaft schien. Wir erreichten den Kai des Hafens gerade zur rechten Zeit: Die Seeleute der Fregatte aus Rostock holten die im Wind knatternden Segel ein und warfen mit geschickten Händen den an Land wartenden Helfern die Taue zu. Überall schaukelten die Fregatten, die Galeonen und die kleineren Segelboote auf den graugrünen Wellen des Hafens. Die Luft schmeckte nach Salz, und es roch vertraut nach Fisch und dem heißen Pech der Werften. Stimmen mischten sich in der Luft, Segel knatterten, die Schiffe knarrten in den Wanden, und Seeleute rollten schwere Fässer über die Planken auf die feste Erde. Möwen ließen sich mit ausgebreiteten Flügeln durch den Wind treiben und tauchten dann und wann in die Gischt. Schwangen sie sich wieder in die Luft, so zappelte in ihrem Schnabel glitzernder Fisch.
Ulrike stieg zuerst aus und entfaltete die beiden kleinen Stufen für mich. Zwei Offiziere der Garde eilten mir zu Hilfe, um mich zu stützen. Von der finnischen Bucht her kam eine frische Brise auf, die ich gierig einsog. Wie gut es tat, dem weitläufigen Glanz des Winterpalastes zu entkommen und hier unter gewöhnlichen Menschen zu sein! Als Zariza tat ich kaum mehr einen Schritt unbegleitet.
Ulrike kniff sich in die Wangen, um eine frische Haut zu haben, und fuhr sich über die Augenbrauen: »Wen erwarten wir heute?« fragte sie mich dann.
»Einen deutschen Baumeister. Andreas Schlüter heißt er«, antwortete ich Ulrike. »Er soll für den preußischen König ein Zimmer ganz aus Bernstein gebaut haben, das ein schieres Wunder an Schönheit ist. Peter hat ihn für eine Unsumme nach Sankt Petersburg gelockt.« Ich verdrehte die Augen etwas, und Ulrike lachte. In diesem Augenblick trat zu meiner Überraschung Domenico Trezzini neben mich und faltete die Hände hinter seinem Rücken. Er wartete ungeduldig darauf, daß ich ihn ansprach. Ich ließ mir damit jedoch Zeit und wandte mich eher nachlässig zu ihm.
»Domenico Trezzini! Der Mann, der die Stadt des Zaren mit seinen eigenen Händen erschafft? Was machst du hier?« fragte ich ihn mit freundlich neckender Stimme, obwohl die Antwort offensichtlich war. Trezzini war ein so eitler Mann, daß ich nie die Lust unterdrücken konnte, ihn zu necken.
»Oh, ich ging zufällig hier spazieren, als ich von einem Neuankömmling hörte. Dann sah ich das Gefolge Eurer Majestät hier ankommen.« Er machte eine gekonnte Pause und sah über die Wellen. »Weshalb hat der Zar Schlüter nach Sankt Petersburg geholt?« fragte er dann scheinbar nebenher.
»Eifersüchtig, Trezzini?« fragte ich ihn leise. Er sah, ohne mir zu antworten, hinaus auf das Wasser. Mit einem Mal tat er mir leid. So erklärte ich ihm: »Nun, der Zar hat seine Bauten in Berlin bewundert …«
»Ist sich der Zar bewußt, daß Schlüter am Hof von Preußen wegen fehlerhafter Berechnungen in Ungnade gefallen ist? Weshalb aber hat er dann Schlüter zum Oberbaudirektor ernannt, mit einem Gehalt von fünftausend Rubeln? Ich habe weder einen solchen Titel noch ein solches Gehalt«, fragte er weiter. Ich faltete meinen Fächer zusammen und schlug Trezzini damit leicht auf die Schulter. »Die Stadt ist groß genug für zehn begabte Baumeister, Domenico Trezzini! Mach dir keine Sorgen!« beschwichtigte ich ihn. Er verneigte sich schweigend.
In diesem Augenblick stieg Andreas Schlüter von seinem Schiff. Der Deutsche trug seine dunkelblonden Haare
Weitere Kostenlose Bücher