Die Zarin (German Edition)
»Vater« wie für jeden, der Macht über uns hatte. »Das ist Martha, die Tochter meines Mannes. Aber ich habe sie aufgezogen. Warum?« Sie griff mich hart ums Handgelenk. »Hat sie etwas angestellt?«
Der Russe strich sich über den Bart und lächelte mich an. Seine Augen konnte ich dabei nicht erkennen, denn sein großer, flacher Hut mit dem Rand aus Biberfell warf einen Schatten darüber. Die Gruppe schwieg. Der Mönch, der vorher gesprochen hatte, kam einen Schritt auf mich zu und griff mich unters Kinn. Er stank ekelerregend nach eingelegten Zwiebeln und zu lange getragener Leibwäsche. Ich kräuselte die Nase. Konnten sich die Pfaffen denn nicht waschen oder zumindest ihre Wäsche wechseln? Der Pope musterte mich frech und ließ mich dann wieder los.
»Nein«, antwortete er schließlich »angestellt hat sie nichts.«
Er wandte sich an Elisabeth. »Geht nach Hause. Wir kommen am frühen Abend in deine isba .«
Christina begann zu maulen. »Aber am Abend ist doch der Tanz!«
Die Mönche sagten nichts, sondern sahen nur eindringlich Elisabeth Rabe an. Sie zuckte mit den Schultern, das Gesicht leer und ausdruckslos. Der Stumpfsinn war die alte Waffe der Leibeigenen gegen die Willkür der Herren. Es war die uns eigene stumme, gewaltlose Art des Widerstandes: Oft scheiterten Order und Befehle unserer Eigentümer an der vollkommenen geistigen Leere, in welche wir uns flohen. Die Macht und die Entscheidungen unserer Herren erschienen uns unweigerlich fremd und feindlich – und doch mußten sie mit Geduld ertragen werden, obwohl sie ohne Unterlaß in uns heilige Bereiche eingriff: die Familie und die Arbeit.
Was aber sollte Elisabeth denn nun sonst tun, als sich schwer von Begriff zu stellen? Wir gehörten doch ihnen und dem Kloster. Ihr Wunsch war uns Befehl.
So gingen wir nach Hause. Christina maulte und sprang von einem Fuß auf den anderen. Sie wagte es jedoch nicht, mich anzusehen. Elisabeth hatte ein vor Zorn verkniffenes Gesicht und spuckte mehrmals geräuschvoll im Laufen aus. Auch sie hatte sich auf den Tanz gefreut. Wie konnte ich ihr nun den Vorfall am Fluß erklären? Als ich dazu ansetzte, sagte sie nur: »Halt den Mund, dumme Gans. Ich wußte es doch, so jemand wie du macht uns nur Ärger!«
Anna weinte leise und fiel dreimal auf dem kurzen Nachhauseweg hin.
Ich war fast erleichtert, als es endlich gegen Abend an die Tür unserer Hütte klopfte.
Die Stimmung war den ganzen Nachmittag über gedrückt gewesen. Die Straße vor der isba war still. Alles, was im mir Beine hatte und laufen konnte, befand sich auf dem Fest. Mein Vater hatte einige Male töricht gefragt, was denn passiert sei – als ob er von Elisabeth im Zorn eine Antwort hätte erwarten können! Alles, was er erfuhr, war, daß die Mönche kommen wollten, um mich zu sehen. Schließlich erhob er sich seufzend vom Ofen und schenkte sich in eine flache Schale etwas kwas nach. Der bittere, aus dunklem Brot gegorene Trank war ein Trost für alle, die sich im Alltag keinen Wodka leisten konnten. Der kwas war weniger stark, aber nach mehreren Schalen ebenso berauschend. Alle im Dorf tranken kwas , denn ohne einen Rausch am Abend nach der Arbeit schien ihnen das Leben nicht erträglich. Dann rutschte mein Vater auf die Bank in der »roten« – also der guten und sauberen – Ecke der Hütte und staubte widerwillig die Ikone des heiligen Nikolaus ab. Sie war mit billigen Erdfarben auf eine rauhe, flache Holzplatte gepinselt. Einen Rahmen darum konnten wir uns nicht leisten. Dann betrachtete er das schlichte Holzkreuz, das daneben hing, und schien kurz zu überlegen. Schließlich zuckte er nur die Schultern und ließ beide nebeneinander hängen. Die Mönche trieben uns nemzy am Sonntag nicht in ihre Kirche wie ihre anderen Seelen: Wir gehörten nicht der russischen Kirche an. Zwar waren wir wohl katholisch getauft, aber hörten nur im Vorbeigehen, was der Pope sagte. Der Glaube war so für uns nichts als ein Satz Bitten und Beschwörungen und das stete Schlagen des Kreuzes mit drei Fingern.
Am Tag unseres Todes, so hofften wir Seelen, sollte uns das in den Himmel der Freigeborenen bringen.
Mein Vater sah mich an und klopfte auf die Bank neben sich. Ich stand vom Boden auf und setzte mich neben ihn. Zu meiner Überraschung lächelte er.
»Was hast du denn ausgefressen, Martha, hm? Mir kannst du es schon sagen.«
Ich zuckte die Schultern. »Nichts. Der fremde Russe, der bei den Mönchen wohnt, wollte mich vor zwei Tagen am Fluß
Weitere Kostenlose Bücher