Die Zarin (German Edition)
schlang mir zwei Decken über mein Wollkleid und meinen Mantel aus Schaffell, nur, um über den Hof in den Stall zu gelangen. Ich wollte Grigori eine Schale frischen tschai bringen. Die Schale in meiner Hand wurde mir rasch zu heiß, und ich beeilte mich, den Stall zu erreichen. Der arme Junge hatte nun die Aufgabe, im Stall zu übernachten. Dort mußte er darauf achten, daß die Tränken von Wassilis Pferden nicht überfroren. Um gegen seine Müdigkeit anzukämpfen, hatte er stets einen Sack voller Metall stücke in der Hand. Schlief er so tief ein, daß seine Muskeln sich entspannten, glitt der Sack aus seiner Hand klirrend zu Boden, und er erwachte. Dann griff er nach einem Holzknüppel, der neben ihm bereitlag, und zertrümmerte die dünne Eisschicht, die sich in dem Moment der Unachtsamkeit auf dem Wasser gebildet hatte. Ich beneidete ihn wahrhaftig nicht um seine Arbeit – zwei seiner Zehen waren ihm im letzten November abgefroren, und er war aus Mangel an Schlaf stets erschöpft.
Schon vor der Stalltür hörte ich ein seltsames Geräusch, wie das Pfeifen einer Gerte in der Luft.
Ich trat vorsichtig näher und rief: »Grigori, bist du da?«
Ich bekam keine Antwort, fiel aber vor Schreck fast hintenüber, als Wassili die Stalltür aufriß. Er trug nur eine fest gegürtete Hose und seine hohen Stiefel. Sein Oberkörper war nackt, und er war trotz der Kälte in Schweiß gebadet. In einer Hand hielt er seine lange Reitpeitsche mit dem Knauf aus Silber.
»Was willst du?« fuhr er mich grob an. Ich hatte gerade meine Blutung, und in diesen Nächten ließ er mich gottlob allein. Außerdem hatte er seit zwei Tagen einen schlimmen Zahn, der ihn höllisch schmerzte. Seine Wange war rot und angeschwollen. Ich konnte sehen, daß er vor Zorn außer sich war. Ich wußte im ersten Augenblick keine Antwort und schob schließlich nur hilflos meine Hand mit der Schale tschai nach vorne.
»Ich bringe tschai für Grigori – es wird doch so kalt …« Ich konnte meinen Satz vor Entsetzen nicht beenden: Denn als ich sprach, gelang es mir, über Wassilis Schulter einen Blick in den Stall zu werfen. Dort sah ich Grigori: Er war mit gestreckten Armen an einen Pfosten gebunden, und sein für den Winter viel zu dünnes Hemd war ihm bis zum Gürtel heruntergerissen. Er baumelte dort, als sei er besinnungslos. Die Haut an seinem Rücken hing in blutigen Streifen herunter.
»Oh, mein Gott!« flüsterte ich. Die Schale glitt mir aus den Fingern, und der Tee spritzte auf Wassilis Stiefel. »Weshalb hast du das getan?« fragte ich ihn fassungslos.
Wassili schnaubte durch die Nase und trat die Schale quer über den Hof. Der Ton zersplitterte auf den groben Steinen. »Der Tagedieb! Nutzloser Faulpelz! Wofür bezahle ich dem Lumpen sein Brot? Er ist eingeschlafen! Und jetzt sind die Bottiche dick vor Eis und meine Pferde können nicht saufen! Das wird ihm eine Lehre sein!«
»Er ist eingeschlafen? Und dafür schlägst du ihn halbtot? Er ist doch noch ein Kind!« Allein durch die Tatsache, daß der fette, starke Wassili fast jede Nacht nackt auf mir lag, hatte sich mein Ton ihm gegenüber geändert. Dennoch, an einem Tag wie diesem mußte auch ich noch vorsichtig sein.
»Ein Nichtsnutz ist er, sonst nichts!« schrie er wieder. Er drehte mir den Rücken zu, ging zurück in den Stall und holte erneut zu einem Schlag aus. Grigori stöhnte verzweifelt auf, als die Peitsche wieder auf seinen geschundenen Rücken schnellte. Wassili lachte, holte mit Schwung wieder aus, und in diesem Augenblick hielt mich nichts mehr! Er wollte den Jungen töten! Ich packte Wassilis Arm und entriß ihm in dem Augenblick der Überraschung die Reitpeitsche.
»Hör sofort damit auf, du Tier!« fuhr ich ihn an. »Du bringst ihn ja um!«
Wassilis Gesicht wurde rot vor Zorn, und er stieß mich heftig nach hinten, so daß ich stolperte und auf einen Ballen Stroh fiel. Die Peitsche glitt mir dabei aus der Hand. Wassili ergriff sie und zog mir zwei, drei Hiebe über. Ich heulte auf vor Schmerz.
»Hier! Du fühlst dich wohl dem Lumpen nahe! Durfte er schon an deinen Röcken schnüffeln? Oder gar mehr?« Er schlug mich noch einmal. »Wart’ du nur auf heute nacht – dir werde ich eine Lehre erteilen, die du nicht vergißt!«
Dann spuckte er vor mir aus, wischte sich den Schweiß von der Stirn und verließ den Stall.
Ich zitterte vor Schreck über meinen eigenen Mut am ganzen Körper. Die Wucht seiner Schläge hatte mein Kleid zerrissen, und etwas Blut rann warm
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