Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zarin (German Edition)

Die Zarin (German Edition)

Titel: Die Zarin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Alpsten
Vom Netzwerk:
wissen wie er? Wenn ich sein Zimmer aufräumte, so staunte ich nur über die Anzahl an Schriften, die er verfaßte, und die Menge Bücher, die sich auf seinen Regalen stapelten. All dies mußte ein Vermögen wert sein! Wie es Karoline überhaupt noch gelang, Geld zu sparen und die Familie zu ernähren, war mir ein Rätsel. Zudem erhielt er fast täglich Briefe und Depeschen von anderen Gelehrten, die ebensoviel über das Leben nachdachten wie er selbst.
    Er lehrte seine Schüler natürlich auch aus der Bibel – aber darüber hinaus wußten sie, wo jedes Land der uns bekannten Welt lag. Ich konnte nicht einmal den Namen meiner Heimat buchstabieren! Sie kannten sich in der Geschichte aus, und alle sprachen, schrieben und lasen recht leidlich verschiedene Sprachen – Deutsch, Schwedisch, Russisch, Griechisch und Latein. Ich fühlte mich so dumm, wenn ich ihre Griffel und ihre Tafeln auf ihren Tischen zurechtrückte. Die Buchstaben auf dem Papier und auf den Schiefertafeln bedeuteten für mich nicht mehr als die Sesamkörner, die ich am Sonnabend in den Brotteig streute. Dazu unterrichtete Ernst Glück sie über Zahlen und Körper – sie konnten sogar im Spaß berechnen, wieviel Wasser in meinen Eimer paßte!
    Am meisten erstaunte mich aber die durchsichtige Abbildung eines Menschen, die Ernst Glück an der Wand des Schulzimmers hängen hatte. Man konnte durch die Haut hindurchsehen – ein Gewirr von Arterien und Venen, wie Ernst Glück mir in einem geduldigen Augenblick erklärte, nachdem ich das Schulzimmer gesäubert hatte. Man sah auch das Herz und das Hirn: Das Bild war von einem Meister in einem Land weit im Süden Europas, das Italien hieß, gezeichnet worden. Ich wandte mich in jenem Augenblick an ihn.
    »Wo aber sitzt dann meine Seele, Pfarrer Glück?«
    Er sah mich nachdenklich an. »Darüber habe ich auch schon oft nachgedacht, Martha. Ich denke, daß Gott uns nicht wissen läßt, wo in unserem Körper die Seele ist. Sie gehört ihm, und er hat sie uns nur geliehen. Wir müssen vorsichtig mit ihr umgehen. Sie ist das Unnennbare, das uns zum Menschen macht, und ist unser höchstes Gut. Was auch immer jemand anderes sagt …«
    »Höher als die Wahrheit?« unterbrach ich ihn und sah ihn forschend an. Er überlegte kurz.
    »Das ist schwer zu sagen. Die Wahrheit kann dich nicht immer retten. Aber deine Seele zu verkaufen oder sie zu verkrüppeln, wird dich immer verderben. Einen Menschen, der seine Seele verkauft hat, erkennst du sofort.« Dann lachte er. »Schweig’ mir lieber still, als zu lügen. Das ist der rechte Ausweg aus einer solchen Lage!«
     
    Das erste Jahr bei den Glücks verging wie im Flug. Ich aß bei ihnen am Tisch und hörte zu, wenn Ernst Glück seiner Familie nach dem Abendbrot bei Kerzenschein aus der Bibel vorlas. Hinterher jedoch reinigte ich noch den Tisch und füllte die kupfernen Bettpfannen mit Kohlen, so daß die Familie warme Betten zur Schlafenszeit vorfand.
    Im Sommer darauf erklärte Zar Peter I. von Rußland den Schweden den Krieg. Es hieß, daß Peter sich in seiner Kriegserklärung auf den Vorfall in Riga vor einigen Jahren bezog, als ihm ein schwedischer Soldat in der Festung den Durchgang verwehrt hatte. Dazu kam angeblich noch, daß die Russen »alteingesessene russische« Länder und Provinzen von den Schweden befreien wollten. Diese Worte waren blanker Hohn in unseren Ohren. Damit meinten sie uns – die freien baltischen Provinzen! Er konnte diese Forderung weder auf unsere Geschichte, unsere Religion, noch unsere Sprache stützen! So hatten wir keinen Frieden in unserem Land, ohne an dem Krieg direkt beteiligt zu sein. Der alte Traum des Johann von Patkul und vieler anderer baltischer Adliger war zerbrochen.
    Schweden war nach Dänemark einmarschiert, worauf der junge König Frederik sich verschüchtert aus seinem Bündnis mit Peter zurückzog. »Das Hemd ist ihm eben näher als die Hose«, meinte Ernst Glück dazu. Gleichzeitig war es August von Sachsen nicht gelungen, Riga einzunehmen. Sowohl Peter als auch August hatten mit der Unterstützung livländischer Adliger gerechnet. Wie konnten sie nur auf eine solche Idee kommen? Andererseits hieß es, Peter hätte in seiner Armee Zehntausende von gut gedrillten Soldaten – damit war er den Schweden zahlenmäßig weit überlegen!
     
    Unser Leben änderte sich in jenem Sommer für den Augenblick jedoch nicht – die Ernte war fett, und alle Keller waren im Herbst gut gefüllt. Der Handel ging wie immer voran, und die

Weitere Kostenlose Bücher