Die Zarin (German Edition)
regiert! Sie nahm sich das Recht auf ein Leben ihrer Wahl heraus! Das war ja unerhört – wenn es doch für uns alle so sein könnte!
»Was ist dann mit ihr geschehen?« fragte ich weiter. Ich wollte mehr wissen von dieser Frau, der Zarentochter und Regentin des Russischen Reiches. »Lebt sie noch?«
Ernst Glück lachte kurz. »Sie sitzt heute kahlgeschoren und eingesperrt im Kloster und verflucht wohl ihre Tage! Wie alle Frauen war sie nicht weitsichtig genug! Als ihr Bruder, der Zar Fjodor starb, regierte sie mit ihrem Geliebten, dem Prinzen Wassili Golizyn. Ein bemerkenswerter Mann!«
»Eine männliche Hure, das ist alles!« unterbrach ihn Johannes rüde.
»Johannes, du unterbrichst mich nicht, wenn ich spreche. Außerdem möchte ich, daß du endlich anfängst, die Welt in ihren Unterschieden zu sehen, und lernst, gründlich nachzudenken, ehe du deinen vorlauten Mund öffnest! Wozu habe ich dich eigentlich so lange unterrichtet?« wies Ernst Glück seinen Sohn zurecht.
Johannes schob trotzig seinen Stuhl zurück, stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Er schlug die Tür hinter sich zu.
Karoline seufzte. Niemand machte Anstalten, Johannes zu folgen. Nur Fried rich schnitt die Pilze seiner Pastete auf seinem Teller unnötig klein. Dann meinte sie nur ruhig: »Also, der Prinz Golizyn«, und half damit ihrem Mann, den Faden seiner Erzählung wieder aufzunehmen.
Ernst Glück sah sie dankbar an, und er nahm seine Ausführungen wieder auf, als sei nichts geschehen: »Ich glaube, daß ohne die Vorarbeit von Wassili Golizyn Peter nicht all diese Ideen hätte – der Militär- und Staatsdienst für die Söhne seiner Adligen, die Schiffahrt und der Bau einer Flotte, seine Reisen nach Holland, Brandenburg, England und Wien – dieser Mann ist von einer unbezwingbaren Neugierde und auch Rastlosigkeit besessen! Kein Wunder, daß er nach alldem, was er dort gesehen hat, will, daß der terem abgeschafft wird, daß die jungen Leute eine Ausbildung erhalten, sich die Russen wie wir kleiden und sich die Haare schneiden! Und eben einen eisfreien Hafen. Rußland soll nun endlich auf den Landkarten der Welt vertreten sein, eine echte Großmacht sein! Ich sage euch, es wird nicht lange dauern, und Peter versucht seinen Sohn Alexej mit einer Prinzessin aus dem Ausland zu verheiraten – und das ist im russischen Zarenhaus nun wirklich unerhört!«
»Weshalb war Sophia denn dann nicht weitsichtig genug?« fragte ich weiter. Ich wollte nicht, daß das Gespräch von dieser unglaublichen Frau abschweifte.
»Nun, ihre Regierung hätte sie nur sichern können, wenn sie Peter beiseite geschafft hätte. Und genau das hat sie nie wirklich versucht! Weshalb? Das weiß ich auch nicht. Ich kann mir keinen Grund denken, weshalb eine so weitsichtige Frau wie sie ihn nicht ernst hätte nehmen sollen!«
»Was hat sie dann mit ihm während all der Jahre gemacht? Wo lebte er?« unterbrach ich ihn.
»Zuerst ließ sie ihn in Moskau spielen, und dies hauptsächlich in der deutschen Vorstadt, der Nemezaja Sloboda : Dort leben Menschen aus ganz Europa zusammen. Handwerker, Händler, Künstler, Gelehrte, Apotheker und Ärzte. Es muß ein fabelhafter Ort sein! Gesellschaftlich abgeschnitten von Moskau, aber voll von Leben und Wissen! Die Russen mißtrauen allen Fremden: Ein russischer Pope sagte mir letztens, auch eine deutsche Seele könnte gerettet werden, wenn sie nur russisch wäre! Ein Russe unterscheidet zwischen drei Völkergruppen: den Mitgliedern der für sie heiligen russischen Kirche, den busurmane im Osten und den nemzy im Westen. Den beiden letzteren begegnet er mit unausrottbarem Mißtrauen! Sie können also die Begeisterung und die Bewunderung des Zaren für alles Fremdländische aus dem Westen nicht verstehen. Und hat man so etwas denn schon gehört: ein Zar, der fast über ein Jahr sein Reich verläßt und durch Europa reist!«
»Hat der Zar dort in der deutschen Vorstadt seine Geliebte kennengelernt? Anna Mons?« unterbrach ich neugierig.
Ernst Glück sah mich an und schüttelte den Kopf. »Typisch Frau – dich interessieren nur die Liebesgeschichten! Und, schau an, du hast von Anna Mons gehört! Ja, dort hat er auch sie kennengelernt. Dann verbannte Sophia ihn in ein kleines Dorf weit weg von Moskau und fern vom Palast, dem Kreml. Peter nahm jedoch seine Freunde und Anhänger aus der deutschen Vorstadt mit sich und baute sich ein winziges Reich im Reiche auf! Er ließ sich sogar Kanonen gießen und baute ein
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