Die Zarin (German Edition)
fahrenden Händler, die Spielleute, die Fuhrwerke und die Handwerker auf der Walz waren unterwegs wie eh und je: Das war alles, was zählte. Aber die Geschichten, die sie von unterwegs und den baltischen Weiten erzählten, wurden bedrohlicher und gingen in Marienburg von Mund zu Mund. Ich hoffte nur, daß meine eigene Familie irgendwo sicher und satt lebte. Anna mußte jetzt schon sieben sein. Meine Brüder waren nun schon Männer, wenn sie noch am Leben waren. Ich selbst war in meinem achtzehnten Lebensjahr, eine erwachsene Frau also. Dennoch konnte ich für mein Leben nicht mehr erhoffen, als ich bei den Glücks hatte: Aber ich war damit von Herzen zufrieden.
Im späten Oktober, kurz vor den großen Herbststürmen also, segelte der sagenumwobene Kind-König der Schweden über die Bucht von Riga und landete in Pernau. Er sprang von seinem Boot in die Wellen, so daß er als erster seiner Männer den Fuß auf baltischen Grund setzte. Sein Heer erreichte die von den Russen belagerte Meeresfestung von Narwa im späten November. Karl hatte den Zeitpunkt seiner Ankunft klug gewählt: Die russische Armee lagerte dort schon seit einem Monat mit fast vierzigtausend Mann, und die Männer waren von dem Anmarsch und der Belagerung erschöpft. Sowohl ihre Vorräte an Munition als auch an Essen gingen zur Neige. Alle umliegenden Höfe waren schon lange geplündert, und die Bauern versteckten sich lieber mit ihrem restlichen Vieh im Wald, als es an die Russen zu verkaufen. Zudem blieb der erhoffte Nachschub an Vorräten und Männern aus Nowgorod aus. Die russischen Generäle waren miteinander zerstritten, und der Mut der Truppen war ohne Verbündete gesunken. Dazu waren ihre Kanonen noch aus schlechtem Metall gegossen und explodierten ihnen ins Gesicht.
Karl dagegen hatte an jenem Tag im November nur neuntausend Soldaten zu seiner Verfügung. Aber von der See zog Nebel auf, ehe ein Schneesturm Mensch und Tier schluckte. Er schlug er die russische Übermacht vernichtend. Es hieß, der Zar sei nur mit dem Leben davongekommen, weil er sich zu diesem Zeitpunkt in Nowgorod befand, um frische Soldaten auszuheben und Nachschub zu organisieren. Die Russen liefen den Schweden wie toll gewordenes Vieh direkt in die Bajonette. Fast alle Überlebenden wurden als Gefangene genommen. Karl mußte jedoch die russischen Offiziere letztendlich wieder freilassen: Er konnte eine solche Anzahl von Gefangenen unmöglich durch den anbrechenden Winter bringen. Die Schweden ließen eine Münze prägen, die einen weinenden, verzweifelten Peter in einer Schneewehe zeigte. Seine Krone war verrutscht und darunter stand geschrieben: »Er saß im Schnee und weinte bitterlich.«
Wir dankten Gott, denn wir glaubten, daß dies das Ende des Krieges sei.
Am Vorabend der Schlacht von Narwa saßen wir zum Abendbrot um den Tisch. Die Kost war im Herbst schon weniger üppig geworden. Auf dem Markt konnte es zwischen den Weibern zu heftigen Wortgefechten und auch Handgreiflichkeiten über eine Lammkeule oder einen Sack Mehl kommen. An jenem Abend gab es eine Pastete aus Pilzen, Speck und roten Zwiebeln und klares Wasser zum Trinken. Satt wurden wir so noch, aber der Unterschied zu dem letzten, sorglosen Sommer war deutlich zu spüren. Der November nebel lag dicht in den Straßen und zog durch die klammen Wände des Pfarrhauses in unsere Herzen.
Ernst Glück faltete seine Hände, und wir alle senkten die Köpfe zum Tischgebet. Er bat um Frieden und Freiheit für Livland und die baltischen Länder. Er betete auch für das Heil der beiden Armeen und für das Leben beider Herrscher. Als er geendet hatte, begann Karoline die Pastete aufzuschneiden, und wir hielten alle der Reihe nach die Zinnteller, von denen wir aßen, hin: Erst ihr Mann, der auch das größte Stück Pastete bekam, dann ihre Söhne, Ulrike, ich, und zuletzt legte sie sich selbst etwas auf. Friedrich schenkte Wasser aus einem großen Krug ein. Wir begannen schweigend mit unseren Messern und den hölzernen Löffeln zu essen. Man hörte nichts außer dem Kratzen des Bestecks auf den Tellern und dem Heulen des Windes in den leeren Straßen von Marienburg.
Plötzlich fragte Ulrike mit ihrer kleinen, klaren Stimme: »Stimmt es, daß der Zar riesengroß mit zwei Köpfen ist und daß er zum Abendbrot kleine Kinder frißt?«
Wir lachten wie befreit auf, und Friedrich sagte: »Ja, besonders kleine Mädchen mit einem blonden Zopf! Pfarrerskinder, zart und jung!«
Ulrike schob die Unterlippe nach vorne.
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