Die Zarin (German Edition)
berittenes Heer auf. Und ehe Sophia sich versah, hatte er Waffen und Männer an seiner Seite, eine mit dem Thronerben gesegnete Ehefrau aus alter russischer Familie, und er war volljährig!«
»Was ist mit ihr passiert?« fragte ich gespannt. »Mit der Zarin, Peters Frau, meine ich?«
»Jewdokija Lopuchina? Die arme Seele. Ihr ist das gleiche wie Sophia passiert. Peter hat sie im letzten Jahr kahlscheren und in ein Kloster stecken lassen. Sie war ihm nicht fortschrittlich genug. Sie ist die Mutter seines Sohnes Alexej, ihre beiden anderen Söhne aber starben nur wenige Wochen nach der Geburt. Nun nagen die Ratten an ihr.«
Karoline schüttelte es. »Was für eine Schande – eine junge Frau so lebendig zu begraben! Soll er sie doch zu ihrer Familie zurückschicken! Schrecklich! Die russische Kirche kann doch auch eine Auflösung der Ehe erlauben!«
Und damit waren sie wieder bei dem Gespräch angelangt, welches das Ehepaar Glück, das zufrieden miteinander lebte, so oft führte: Sollte es erlaubt sein, eine vor Gott geschlossene Ehe zu scheiden, oder nicht?
Karoline, Ulrike, die Köchin und ich hatten lange Stunden damit zugebracht, die Kirche für das Erntedankfest zu schmücken. Vor dem Altar häuften sich trotz der schlechten Zeit das Korn und die Ähren, Obst, Gemüse und Bündel von frisch geschnittenen, duftenden Ästen, um die wir bunte Bänder gebunden hatten. In den hohen aus Holz geschnitzten Kerzenständern brannten die Kerzen, die wir aus reinem Bienenwachs in den Abendstunden selbst gedreht hatten, mit einer klaren, aufrechten Flamme. Normalerweise stellten wir die einfachen Kerzen für den Haushalt aus einer Mischung aus gereinigtem Schweine- oder Rinderfett und etwas Wachs her. Aber die Flammen waren dann nicht so rein, und es roch widerlich in den Räumen, in denen sie brannten. Das beste Fett für Kerzen stammte aus dem Kopf der Wale, die um Norwegen wanderten, aber das war nur schwer zu bekommen und sehr teuer.
Die Bänke und der Holzfußboden blitzten vor Sauberkeit, als die Gemeinde langsam die Kirche füllte. Es duftete nach den Dankesgaben und dem frischen Stroh, das ich auf dem Boden ausgebreitet hatte. Die Wärmpfannen auf ihren drei Beinen waren bis oben hin mit glühender Kohle gefüllt. Ich bemerkte, daß die Gemeinde sich in ihre Festtagsgewänder gekleidet hatten. Anders als bei den üppigen, russischen Gewändern zu hohen kirchlichen Feiertagen sah man dies aber nur am Glanz der Stoffe und am weichen Fall der Röcke. Die Kleider der Frauen waren in gedämpften und dunklen Farben gehalten, doch ihre weißen Kragen waren frisch gestärkt und lagen anmutig um ihre Hälse. Einige trugen sogar Kragen aus Spitze als Zeichen ihres Wohlstandes. Die jüngeren Mädchen hatten sich farbige Schals um die eng geschnürten Leiber gebunden und trugen zarte Perlen in ihren Ohren und um ihre Hälse – soviel Putz war in der Kirche gerade erlaubt. Ihre Haare waren ordentlich in Zöpfe, Schnecken, Locken oder Knoten gesteckt und geschlungen, und ihre Wangen waren von der einsetzenden Winterkälte gerötet. Mir entging dabei nicht, daß sie ihre Augen wie unabsichtlich über die Gruppen der anwesenden jungen Männer schweifen ließen. Diese standen beisammen, scherzten ausgelassen und ließen ihre Augen ebenso unabsichtlich dieses oder jenes junge Mädchen mustern, das da artig zwischen Vater, Mutter und Geschwistern saß.
Ich verspürte dabei wieder dieselbe Sehnsucht, wie damals, als ich an meinem ersten Tag in Walk neben Wassili auf dem Kutschbock saß: Eine von ihnen wollte ich sein! Aus geregelten Verhältnissen zu stammen und kein Wildling mit einem Herzen voll bitterer Geheimnisse zu sein. Diese Mädchen wirkten so frisch und behütet! Man roch ihr Badesalz und das zarte Riechwasser, das sie benutzen durften, ohne gegen die guten Sitten zu verstoßen. Kein Mann konnte sich ihnen einfach so nähern, sie für einen halben Rubel kaufen und dann nach Herzenslust mißhandeln! Nein, sie mußten sich Mühe geben, um sie werben und lange warten, ehe sie nur auf einen Blick, geschweige denn auf einen Brief von ihr hoffen konnten! Es war eine Welt, die mir schmerzlich verschlossen war.
Gerade als ich diesen traurigen Gedanken hegte, spürte ich Karolines Augen auf mir. Ich sah auf, und sie nickte und lächelte mir zu. Mir wurde warm – auch ich gehörte nun zu einer Familie!
Ich saß neben Johannes und Friedrich auf der Bank. Ulrike hatte ihre kleine Hand in meine geschoben und fingerte mit
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