Die Zarin (German Edition)
Ernst Glück im Schulzimmer hatte ich sicher schon Karten gesehen. Ich kannte den Lauf der Vaïna und die Lage unserer großen Städte. Als der Krieg ausbrach, hatte der Pastor dann wie ein Feldherr bei jeder Neuigkeit über eine Schlacht Nadeln in die betroffenen Dörfer und Städte gesteckt. Quer über Menschikows Feldkarten lag ein goldener Federhalter mit einer frisch angespitzten Feder. Das Faß Tinte daneben war offen. Ich nahm den Federhalter auf, drehte ihn leicht in den Fingern und hielt ihn kurz an die Nase. Frische Tinte roch nach Gelehrsamkeit. Dieser eine Federhalter aus Gold könnte wohl meine Familie leicht an die fünf Jahre überleben lassen, ohne daß mein Vater einen Finger hätte rühren müssen. Ich legte ihn ruhig auf die Schreibtischplatte zurück.
In diesem Augenblick fühlte ich, daß mich jemand beobachtete.
Ich sah vorsichtig nach oben – und begegnete dem starren, in Farbe und Öl festgehaltenen Blick aus den Augen eines Mannes: Über Menschikows Schreibtisch hing ein Gemälde. Ich wich erschrocken einen Schritt zurück. Genaue Abbildungen des menschlichen Gesichtes kannte ich bis dahin nur von dem Bild des heiligen Nikolaus, welches bei uns in der isba hing und natürlich dem Bild der Dreifaltigkeit in Ernst Glücks Kirche. Aber bei diesem Bild handelte es sich ganz offensichtlich nicht um einen Heiligen, sondern um einen Menschen aus Fleisch und Blut! Ich erschrak, denn: War dies nicht Gotteslästerung? Es wirkte so echt! Es zeigte einen dunkelhaarigen Mann mit einem runden, jedoch festen Gesicht. Der Blick seiner strahlend blauen Augen bohrte sich direkt in meine Augen, und er hatte mich so sicherlich seit dem Moment beobachtet, in dem ich das Zelt betrat. Die Augen standen in einem erstaunlichen Gegensatz zu den geschwungenen, dunklen Augenbrauen: Sie waren fast schwarz, ebenso wie sein Haar und der feine Schnurrbart, den er nach deutscher Art trug. Seine Nase schien etwas zu groß, doch der feingeschwungene Mund konnte den Makel wieder gutmachen. Er war ein schöner Mann. Er trug einen Brust- und Armpanzer aus Silber und Gold, einen weißen Mantel und eine Schärpe in der Farbe des Himmels. Sein einer Arm ruhte auf seinem Schwert, der andere streckte sich gebieterisch nach einem Helm mit einem roten Federbusch über dem Visier. In einer Ecke des Bildes war der russische Doppeladler gemalt: Ihn hatte ich auf Tausenden von Fahnen vor den Toren von Marienburg wehen sehen.
Ich legte den Kopf schief, um das Bild besser begutachten zu können. In diesem Augenblick hörte ich hinter mir eine weibliche, scharfe Stimme.
»Na, wie gefällt dir unser Zar, Mädchen?«
Ich drehte mich hastig und mit rotem Gesicht um. Ich wollte nicht beim schamlosen Herumstöbern überrascht werden. Wie hatte Karoline Glück es genannt? Die Sünde der Neugierde. Gleichzeitig atmete ich erstaunt ein. Ich hatte nicht geahnt, daß es ein so schönes und gepflegtes Wesen geben konnte, wie die Frau, die da vor mir stand! Unwillkürlich schob ich einen schmutzigen Fuß unter den anderen und rückte den Bund meines zu knappen, groben Leinenrockes zurecht.
Sie sah die kleine Bewegung wohl, und die Winkel ihres vollen, schönen Mundes zogen sich spöttisch nach unten. Ich mußte in ihren Augen aussehen wie der Bauerntrampel, der ich war. Sie selber hatte zwei Perlenstränge durch ihr volles, kornblondes Haar gezogen, das wie ein schimmernder Pelz auf ihre nackten Schultern fiel. Sie trug ein Kleid nach deutscher Art, das aus einem blauen Seidenstoff geschneidert war. Es lag schmal um ihren Leib und entblößte gut die Hälfte eines runden, festen Busens. Ich betrachtete erstaunt den kleinen Leberfleck nahe der Spitze der rechten Brust, der sich bei jedem ihrer leichten Atemzüge frech hob und senkte.
Sie ging einmal langsam und prüfend um mich herum. Jede ihrer Bewegungen ließ einen Duft nach Rosen und mit einer etwas schwereren, sehr verführerischen Note, für die ich keinen Namen fand, in der Luft zurück.
Dann zerstörte sie den von ihr gesponnenen Zauber: Sie zog ein Taschentuch aus ihrem schmalen Ärmel, der mit einem Spitzenwurf am Ellenbogen endete, und hielt es sich mit übertriebenem Ekel vor ihre kleine, scharf gebogene Nase. »Du stinkst, Mädchen, nach Eselsmist und nach Straßenauswurf! Du liebe Güte, und dich hat Menschikow in sein Zelt beordert? Ich hatte schon Befürchtungen, aber nun, da ich dich sehe … ha! Da wollte er wohl dem alten Geier Scheremetjew eins auswischen! Oder hast du ihm etwa
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