Die Zarin (German Edition)
endlosen Erstaunens für mich: Sie schien keine Furcht zu kennen. Dabei legte sie eine verblüffende Mischung aus unterwürfiger Sanftmut, offener Frechheit, grobem Witz und sprunghafter Launenhaftigkeit an den Tag. Es war, als ob Menschikow sich nie sicher sein konnte, was er von ihr als nächstes erwarten konnte – und das hielt ihn bei ihr! Ich konnte ihr auch endlos zuhören, wenn sie mir Ratschläge für die Pflege meiner Schönheit gab. Sie legte sich eine Mischung aus Honig und weichem Wachs auf die Lippen, um sie sanft und schimmernd zu erhalten. Ihr Haar spülte sie mit einer heimischen Pflanze, der Kamille, und gab dann den Saft einer exotischen Frucht darauf, die ich noch nie gesehen hatte. Darja nannte sie Zitrone, und ihr scharfer Saft hielt auch ihre Haut so rein und weiß. Als ich die längliche, gelbe Frucht zum ersten Mal sah, ließ Darja mich hineinbeißen. Sie lachte klirrend, als ich bei dem sauren Geschmack das Gesicht verzog. Um ihre Haut zart zu halten, legte sie sich am Morgen Rahm auf – aber nur, wenn Menschikow nicht im Zelt war, denn sie sah damit aus wie ein Schreckgespenst. Außerdem zeigte sie mir eine übelriechende graue Paste, die in einer Stadt weit im Süden mit dem Namen Venedig hergestellt wurde – sie war so teuer, daß sie sie fest unter Verschluß hielt. Ich hatte jedoch keinerlei Bedürfnis, mir den stinkenden Brei auf die Haut zu legen. Zudem hörte ich von einer Zofe, daß die Paste die Haut zerstörte. Die alten Damen in Moskau, die sie ihr Leben lang benutzt hatten, sollten angeblich unter ihren Schleiern eine Haut wie die Aussätzigen vor den Mauern der Stadt haben. Darja riet mir auch, meine von der Arbeit kalten und roten Hände mit Öl einzustreichen und meine Haare mit Bier zu spülen. Man denke sich, vor zwei Jahren gab es in meinem Leben Bier nur an Feiertagen! Kein Tropfen durfte verschüttet werden, sonst prügelte mein Vater uns windelweich, und nun spülte ich meine Haare damit!
Am meisten jedoch begeisterten mich die Erzählungen von Darjas Leben in Menschikows Palast in Moskau! Anscheinend wurde dort jeden Tag gefeiert: Wenn der Hofkalender des Kreml keinen Vorwand für eine Feier hergab, fand man sich zum verbotenen Kartenspiel, einem Gelage oder einem Tanz zusammen. Der Krieg und die von Moskau fernen Ehemänner erhöhten die Heiterkeit der Damen noch. Peter hatte die Frauen aus dem Gefängnis des terem geholt, und nun wollte er, daß sie mit den Männern feierten und spielten, sagte mir Darja. Er wollte, daß sie lachten, sich salbten und sich wie die Damen am Hof in Versailles verhielten. Weg mit den Schleiern und dem Dasein hinter verschlossenen Türen! Er nannte sie auch nicht mehr bojaryni – die Frauen der Bojaren – sondern nach französischem Vorbild sprach man nun von damy . Kein Wunder, daß all dies die alteingesessenen Moskowiter zutiefst erschütterte: Es war ihnen nun bei Strafe verboten, sich auf althergebrachte Weise zu kleiden, ihre Söhne ohne Ausbildung zu lassen und ihre Töchter in den terem zu sperren! Zudem, so sagte Darja mit spöttisch verdrehten Augen, sollten der Zar und Menschikow sich im Gottesdienst vor aller Augen eine Pfeife gestopft haben!
Eines Tages wollte ich Moskau nun auch mit eigenen Augen sehen!
Es gab aber auch Augenblicke, in denen Darja verwirrt und traurig war: Sie fühlte sich dann zwischen ihrer Erziehung im terem und dem Leben mit freien Festen, dem Trinken, den tief ausgeschnittenen Kleidern und der offensichtlichen Sinnenlust hin- und hergerissen. »Das Moskau meiner Kindheit gibt es nicht mehr, Martha. Es ist zu traurig – ich erinnere mich, wie wir von unserem Landgut im Sommer für die Saison im Winter in unseren Stadtpalast zogen. Wir Mädchen saßen mit unserer Mutter und unseren Tanten in einer verhängten Kutsche und konnten nur durch die geschlossenen Vorhänge auf die Straßen schielen! Aber was für Straßen, sage ich dir! Moskau war damals der Mittelpunkt der Welt! Schon aus der Ferne raubt dir die Stadt den Atem! Die ganze Ebene scheint von dieser Stadt bedeckt! Hunderte von Kuppeln und Türmen ragen bis in den Himmel. Hohe Häuser aus Stein stehen neben niedrigen Hütten aus Holz und Matsch, die einen neben den anderen! So ein buntes Durcheinander – und die Menschen dort … es gibt nirgends mehr Tradition, mehr Sitte und mehr Leben als in Moskau!«
»Aber weshalb gibt es die Stadt deiner Kindheit dann nicht mehr, Darja?« fragte ich erstaunt.
»Nun, was soll geschehen, wenn der Zar
Weitere Kostenlose Bücher