Die Zarin (German Edition)
wirklich seine neue Hauptstadt bauen will?« fragte sie mich fast ärgerlich.
Ich war erstaunt. »Der Zar will eine neue Stadt bauen? Einfach so aus dem Nichts? Aber das ist doch unmöglich! Wo, und wann? Und wie? Jetzt etwa, mitten im Krieg?«
Darja schien mit einem Mal unsicher geworden zu sein und murmelte nur eine schroffe Antwort, die mir nicht weiterhalf. Ich stellte keine weiteren Fragen zu der geheimnisvollen Stadt. Aber ich begriff die tiefe Unsicherheit und die Zerrissenheit, in die der Zar seine Untertanen warf. Wenn seine direkte Umgebung seine Entscheidungen fürchtete, und sie sich oftmals wie Fremde in ihrem eigenen Land fühlten, wie fühlten sich der Kaufmann in der kleinen Stadt und der Bauer in der Steppe?
Doch auch in Menschikows Zelt wurde einem die Zeit nicht lang. Es wurde dort jeden Abend und jede Nacht gefeiert! Zwar fand an jedem Morgen eine Messe für die Prinzen und Generäle statt. Eine zweite Messe wurde auf freiem Feld für die Soldaten abgehalten. Menschikow hatte in seinem Zelt neben dem Abbild des Zaren auch zahlreiche Ikonen hängen, vor denen sich die Besucher nach alter Sitte verbeugten und mit drei Fingern bekreuzigten, sobald sie das Zelt betraten. Aber wenn ich von der Arbeit in das Zelt zurückkehrte, erwartete ich nichts anderes, als dort eine frohe und schon sehr betrunkene Runde anzutreffen. Dieser gehetzte, wilde Frohsinn erlaubte ihnen eine Pause von den Sorgen des Krieges und den bevorstehenden Härten: Das Leben konnte schon morgen vorbei sein, und dann trafen sie Gott und St. Nikolaus noch früh genug! Angeblich hatte der Zar den nächsten Marschbefehl schon erlassen, aber das Ziel war noch geheim.
Und, was soll ich sagen: Die Feiern und die Feste machten mir sehr, sehr viel Freude! Ich benötigte nur wenig Schlaf und konnte fast jeden der anwesenden Männer unter den Tisch trinken. Die Abende waren lang, laut und lustig, voller Wein, Bier und Wodka – niemand trank hier kwas , den Trank der Armen. Zwerge schlugen Räder und rangen mit ihren verwachsenen Körpern miteinander, abgerichtete Hunde fütterten die Menschen und sprangen durch flammende Reifen, und wir Frauen trugen oft Männerkleider und andersherum. Wir sahen dabei wesentlich verführerischer aus als die Männer, die in unsere Kleider schlüpften! Ihre Brusthaare zerstörten den Anblick eines Ausschnittes, und ihre breiten Schultern sprengten die zarten Ärmel. Aber wir johlten vor Vergnügen bei ihrem Anblick. Es gefiel mir, Männerkleider zu tragen: Die schmalen Hosen, die bis zum Knie reichten, und die feinen Strümpfe betonten meine vollen, geschwungenen Hüften und meine langen Beine sehr vorteilhaft.
Wer nach Menschikows Ansicht bei diesen Festen nicht genug trank, wurde dazu gezwungen, bis er fast platzte. Einer hielt dem Unglücklichen den Kiefer auf, und ein anderer schüttete Stiefel um Stiefel Bier und Wodka in seinen Rachen. Menschikow und wir jubelten beim Zusehen: Er trank auf das Wohl seines schluckenden und gurgelnden Opfers und schrie in die Runde: »Ein echter Russe benötigt für einen echten Rausch neun Tage! Drei Tage, um betrunken zu werden, drei, um betrunken zu sein, und drei, um wieder zu Sinnen zu kommen!«
Wir klatschten in die Hände und jubelten im Takt: »Neun, neun, neun!«
Der gequälte Zwangsbetrunkene flüchtete sich derweil in eine rettende Ohnmacht und wurde in sein Zelt getragen.
Bei den Feiern waren alle zugegen, die im Lager Rang und Namen hatten: blutjunge Bojarensöhne und alte, ehrwürdige Prinzen, die Peter noch unbarmherzig in den Krieg schickte. Es waren außer mir und Darja noch andere Frauen bei den Gelagen dabei – Huren, die in Marienburg geblieben waren und nun wie Mutter Nataljas Mädchen ihre Dienste den russischen Soldaten anboten, und Frauen, die den Feldzug als echte Marketenderinnen begleiteten. Zudem kamen gegen Ende unserer Zeit vor Marienburg noch Darjas Schwester Warwara und auch Menschikows Schwester Anna aus Moskau angereist.
Anna Menschikowa war wirklich keine schöne Frau: Die Züge, die bei ihrem Bruder einnehmend und männlich wirkten, ließen ihr Gesicht grob und zerfahren erscheinen. Zudem schminkte sie sich nach Moskauer Art, was ihren Anblick im ersten Augenblick geradezu furchterregend werden ließ. Ihr Gesicht war mit einer Schicht von kalkweißem Puder bedeckt. Ihre Lippen waren zinnoberrot angemalt, und auf die Wangen hatte sie sich zwei ebenso grelle rote Flecken gemalt. Ihre Augenbrauen und Wimpern waren schwarz
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