Die Zauberlehrlinge
nicht, dass er Iris die Erklärung zumuten konnte, man habe ihn fälschlich der Unterschlagung bezichtigt. »Etwa um die gleiche Zeit hat mir ein Freund angeboten, mich um seine Villa auf Rhodos zu kümmern.«
»War der Freund zufällig dieser in Ungnade gefallene Minister - Alan Dysart?«
»Ja. Aber damals war er nicht Minister und nicht in Ungnade gefallen.«
»Woher kanntest du ihn?«
»Er hatte für Barry und mich gearbeitet, als er noch Student war.« Verlegen rutschte Harry auf seinem Stuhl herum. »Ach, wohin soll uns das alles führen?«
»In die Gegenwart, Harry. In deine Gegenwart.«
»Ich lebe in der Foxglove Road 78 in Kensal Green in einer Wohnung im ersten Stock. Meine Vermieterin und ihr Kater wohnen unten. Ich bezahle die Miete, indem ich halbtags in einer Tankstelle und Werkstatt arbeite. Ich komme zurecht. Ich lebe von Tag zu Tag. Ich überlebe. Was willst du sonst noch wissen?«
»Nie geheiratet?«
»Da du schon fragst: doch. Erst vor ein paar Jahren.«
»Aber ihr lebt nicht zusammen?«
»Sie ist nach Newcastle gezogen, um einen Job zu finden. Sie hat da einen Vetter, der Anwalt ist. Er hat sie als Sekretärin eingestellt.« Wachsende Vorsicht hinderte Harry an der Erklärung, dass er Zohra geheiratet hatte, um sie vor der Abschiebung nach Sri Lanka zu bewahren. Es war ein Akt unzweideutiger Großzügigkeit gewesen. Aber irgendwie dachte er, es würde sich nicht so anhören. »Das reicht über mich. Was ist mit dir? Und David?«
Sie trank Tee und wollte offensichtlich Zeit gewinnen, ehe sie antwortete. »Da gibt es etwas, was du verstehen musst, Harry. Etwas, das nicht leicht auszusprechen ist. Was vor vierunddreißig Jahren zwischen uns passiert ist, hatte einen tieferen Grund.«
»Was meinst du damit?«
»Claude und ich haben lange versucht, Kinder zu bekommen. Ohne Erfolg. Und ich wollte Kinder, unbedingt. Claude war ein guter Mann. Ich liebte ihn. Aber...«
»Aber er konnte keine Kinder zeugen?«
»Nein. Aber...«
»Aber ich konnte es.«
»Das hört sich schrecklich an, nicht? So klinisch. So... berechnend.«
»Ich dachte, wir hätten einfach Spass gehabt. Einfachen, unkomplizierten Spass.«
»Einfach, ja. Unkompliziert, nein.«
»Also war die Erkenntnis, dass du von mir schwanger warst, nicht so sehr ein schrecklicher Schock, sondern eher ein befriedigendes Resultat. Hast du David das erzählt?«
»Ja. Und deshalb hätte er niemals nach dir gesucht.«
»Na, vielen Dank«, sagte er und ließ seine Bitterkeit in seinem Ton mitschwingen. »Vielen Dank, dass du meinem Sohn zu verstehen gegeben hast, dass ich nur ein Mittel zum Zweck war.«
»Dein Sohn ist er nur im strengsten biologischen Sinn.« Sie warf den Kopf zurück, als wolle sie nicht nur ruhig, sondern auch logisch reden. »Ich werde dich nicht daran hindern, ihn zu besuchen, Harry. Ich könnte es, aber ich werde es nicht tun. Andererseits werde ich nicht zulassen, dass du dich in sein Leben drängst oder in meines.«
»Wie lange habe ich Zeit, bevor du ihn abschaltest?«
»So einfach ist das nicht.«
»Würdest du mich wenigstens vorwarnen, wenn du zu einer Entscheidung gekommen bist?«
»Ja.« Sie sah ihn ernst an. »Das werde ich.« Sie nahm ein winziges Notizbuch aus ihrer Handtasche, riss eine Seite heraus, schrieb etwas darauf und schob ihm das Blatt über den Tisch zu. »Adresse und Telefonnummer meiner Schwester. Du kannst mich dort erreichen, wenn es wirklich nötig ist.«
»Weiß sie von mir?«
»Sie wird es erfahren.«
»Und Ken?«
Iris schüttelte den Kopf. »Ich werde keine Fragen mehr beantworten, Harry. Du weißt bereits alles, worauf du ein Recht hast. Vermutlich noch mehr.«
»Wer immer mir diese Nachricht hinterlassen hat, war offenbar anderer Ansicht.«
»Wenn es überhaupt eine Nachricht gab.«
»Du hast selbst gesagt, dass ich es anders nicht hätte herausfinden können.«
»Vermutlich nicht. Einfach noch ein Geheimnis.«
»Wie die Überdosis ? Wenn es kein Selbstmordversuch war und kein Unfall gewesen sein kann...«
»Hör auf!« Zum ersten Mal hob sie die Stimme, was ausreichte, neugierige Blicke vom Nebentisch auf sie zu ziehen. »Ich habe diese Spekulationen satt. Glaubst du, ich hätte nicht immer wieder über all das nachgedacht? Am Ende ist das Warum und Wozu unwichtig. Es hilft ihm nicht beim Atmen oder Sprechen oder Gehen. Gar nichts hilft.«
Sie zitterte jetzt und hatte Tränen in den Augen. »Ich frage mich, ob es eine Art Strafe dafür sein könnte, dass ich Claude
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