Die Zauberlehrlinge
Alltagskram, du weißt schon. Weiterleben.«
»Nennst du das Weiterleben, wenn du hier in dieser vermodernden Totenstadt herumsitzt?«
»Wahrscheinlich. Na ja, diese Leute hier sind genauso real wie irgendwer in der City, nicht? Oder sie waren es. Und da die Zeit nur eine Dimension wie jede andere ist, bedeutet das, dass sie's noch immer sind, nicht? Die Zeit ist das einzige, was uns trennt. Vielleicht, wenn ich lange genug hier sitze, tut sie es nicht mehr.«
»Mir gefällt nicht, wie sich das anhört. Ich würde dir gern helfen.«
»Das kannst du.« Er drehte sich auf der Stufe um und sah sie an. »Geh nach Hause, Donna. Mach mit deinem Leben weiter, fang an, es wieder zu genießen. Schließ einen Buchvertrag über eine Million Dollar: Globescope, die ganze Geschichte. Müsste ein Bestseller werden. Könnte sogar die Zukunft verändern. Die kann man nämlich leichter verändern als die Vergangenheit.«
»Aber was ist mit der Vergangenheit?«
»Vergiss sie. Sie ist vorbei.«
»Du sprichst nicht wie der Harry, den ich in Chicago kennengelernt habe.«
»Nein, weil ich nicht mehr der Harry bin, den du in Chicago kennengelernt hast. Oder der Harry, der noch vor sechs Wochen fröhlich sein Leben verplemperte, ohne zu wissen, dass er einen Sohn hatte, der im Krankenhaus im Koma lag.«
»Und wer ist Harry jetzt?«
»Ein Mann mit offenen Augen, der in den Spiegel schaut und dem das, was er da sieht, nicht sonderlich gefällt.«
»Also, ich sehe dir über die Schulter, und ich finde den Anblick so übel nicht.«
Harry brachte ein zerknirschtes Grinsen zustande. »Danke.«
»Wenn all das vorbei ist, warum fliegst du nicht nach Kalifornien und bleibst eine Weile da?«
»Das ist eine Einladung, die du vielleicht noch bereuen wirst.«
»Glaube ich nicht. Wie lautet die Antwort?«
»Die Antwort lautet: vielleicht. Wenn es soweit ist, findest du es vielleicht keine so gute Idee mehr.« Er beugte sich hinüber und küsste sie zart auf die Wange. »Warten wir's ab.«
Harry ging mit Donna zum Bahnhof von Kensal Green und wartete mit ihr auf dem Bahnsteig auf den Zug nach Süden. Sie war unterwegs nach Heathrow, um nach Kopenhagen zu fliegen. Margrethe Hammelgaard hatte das Recht auf eine Erklärung. Vielleicht am meisten von Harry, aber er war froh, diese Dinge Donna zu überlassen. Er hatte sich nicht einmal mit Athene Tilson in Verbindung gesetzt, wie er versprochen hatte. Er brachte auch nicht die Energie auf, sich zu überlegen, was sie sich dabei denken würde. Dasselbe galt für alle anderen Betroffenen des Globescope-Skandals. Seine Rolle bei dessen Aufdeckung hatte ihn ausgelaugt und richtungslos zurückgelassen; ihm war kaum etwas bewusst, außer dass Davids Tod einen Hohn aus seinen großen Prätentionen gemacht hatte. Er wusste, dass er sich selbst bemitleidete, aber er wusste auch, dass das besser war, als das Mitleid anderer zu akzeptieren. Als er Donna zum Abschied küsste und zusah, wie die Türen sich hinter ihr schlössen und der Zug aus dem Bahnhof rollte, war er sicher, dass er ihre Einladung niemals annehmen würde. Wenn er jetzt in den Spiegel sah, würde ihm niemand über die Schulter schauen. Das entsprach zwar nicht seinen Wünschen, aber er hatte sich so entschieden.
Langsam verließ er den Bahnhof und blieb am Eingang stehen. Die Foxglove Road lag rechts, der Friedhof geradeaus, das Stonemason's Arms links. Nachdem er sich umständlich eine neue Zigarette angezündet hatte, wandte er sich nach links und beschleunigte seine Schritte.
54. Kapitel
Der Dezember war schon immer Harrys schwarzer Monat gewesen. Ohne Job, der ihn ablenkte, ohne Verantwortung und ohne Zukunft, die es wert war, sich darauf zu freuen, versank Harry ohne große Gegenwehr in Mutlosigkeit und gelegentlicher Verzweiflung. Die Jagd der Medien auf Byron Lazenby nahm er kaum wahr. Er erhaschte einen kurzen Blick auf ein Foto von Lazenby auf der Titelseite von Time, auf dem er ziemlich gequält aussah. Die Schlagzeile dazu lautete: Eine Vorhersage, um dafür zu sterben: Globescopes selbstzerstörerische Botschaft für die Jahrtausendwende. Weil Mrs. Tandy es ihm erzählte, wusste er auch, dass die Sonntagsblätter sich genussvoll auf die Affäre stürzten und sogar Iris in Wilmslow belagerten. Aber sie sagte nicht viel, vor allem absolut nichts über den leiblichen Vater ihres verstorbenen Sohns. Also war Harry vor den Nachrichtenjägern sicher, aber nicht vor der Hoffnungslosigkeit.
Die war ihm immer noch auf den Fersen,
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