Die Zauberlehrlinge
bei uns war. Ich schlug vor, dass er sich mit Athene Tilson in Verbindung setzt, Davids ehemaliger Tutorin in Cambridge. David hatte erwähnt, dass er sie besucht hat, bevor er zu uns kam. Sie ist ebenfalls Mathematikerin. Vielleicht hat er ihr seine letzten Arbeiten gezeigt.«
»Oder sie bei ihr gelassen?«
»Natürlich, das wäre auch möglich.«
Harry beugte sich über das Bett. »Wo kann ich sie finden, Iris?«
»Southwold, an der Küste von Suffolk. Da hat sie sich zur Ruhe gesetzt.«
»Hast du seit Davids Erkrankung von ihr gehört?«
»Nein, seltsamerweise nicht.«
»Findest du nicht, dass es dann Zeit wird, dass sie von uns hört?«
»Vielleicht.«
»Willst du denn nicht wissen, was sie zu sagen hat?«
»Das hängt davon ab, was es ist.«
Das war ein Echo der vorherigen Angst. Ein Mann, der sich darauf vorbereitet, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, könnte durchaus die Früchte seiner letzten intellektuellen Bemühungen bei seiner vertrauenswürdigen Mentorin zurücklassen. Genauso, wie er seiner Mutter einen letzten Besuch abstatten und zum Abschied seine Exgeliebte anrufen könnte, bevor er das BITTE NICHT STÖREN-Schild an seine Hotelzimmertür hängt und eine Spritze mit genügend Insulin füllt, um seinen Nachtschlaf bis in die Ewigkeit auszudehnen. Das war der eigentliche Grund, warum Iris davor zurückschreckte, die Geheimnisse der letzten Stunden ihres Sohnes zu erforschen. Weil sie nicht sicher war, ob sie die Wahrheit dem Nichtwissen vorziehen sollte. Weil Nichtwissen ungefährlich war, selbst wenn es zweifellos schmerzte.
»Du brauchst das nicht zu tun, Harry. Du kannst immer noch Kens Rat befolgen. Halt dich da raus. Lass uns in Ruhe.«
»Das glaube ich nicht«, antwortete er und betrachtete Davids ruhiges, unveränderliches Gesicht. »Ich glaube wirklich nicht, dass das noch eine Option ist.« Er sah Iris an. »Du vielleicht?«
13. Kapitel
Harry erreichte Southwold mit dem Bus aus Ipswich. Es war ein heller, windiger Morgen mit bauschigen, rasch dahinziehenden Wolken und weitem, blauem, ostenglischem Horizont. Örtliche Dichter mochte die Geschäftigkeit der High Street und das laute Kreischen der Möwen am Ufer zu Versen anregen. Doch Harry war nicht gerade in poetischer Stimmung. Er hatte die bleiernen Kopfschmerzen und beginnenden Leberbeschwerden, die nach einer langen Nacht im Stonemason's, einem hastigen Frühstück und einer Fahrt in der überfüllten Untergrundbahn zur Liverpool Street zu erwarten waren. Ihn störte die Erinnerung an Crowthers Sarkasmus, als er eingewilligt hatte, ihm einen freien Tag zu geben: »Die Arbeit hier stellt nicht allzu große Ansprüche an Ihre Zeit, was, Harry?« Und er war überhaupt nicht sicher, dass der Ausflug nach Suffolk tatsächlich etwas bringen würde, was er nicht auch telefonisch hätte erfahren können. Natürlich hatte er Dr. Tilson angerufen, aber nur eine Haushälterin erreicht, doch es war ihm gelungen, einen Termin zu vereinbaren, ohne mehr sagen zu müssen, als dass er ein Freund von David Vennings Mutter sei. Diese Zurückhaltung war ihm nur klug erschienen, bevor er Davids ehemalige Tutorin sehen und ihr Verhalten und ihre Worte abwägen konnte. Als er jetzt am Ufer entlang schlenderte und sich gegen den Wind stemmte, zweifelte er unwillkürlich daran, dass er seine Karten klug ausgespielt hatte.
Avocet House war eine hochgiebelige viktorianische Villa hinter sturmzerzausten Hecken am südlichen Ende der Stadt. Es sah mehr nach dem letzten Ankerplatz eines bärtigen Admirals aus als nach dem Versteck einer Gelehrten. Warum Dr. Tilson diese salzbesprühte Abgeschiedenheit den holzgetäfelten Räumen in Cambridge vorgezogen hatte, die Harry sich mühelos vorstellen konnte, war auf den ersten Blick unerklärlich.
Das blieb es auch, als Harry an der Tür von der Haushälterin empfangen wurde, mit der er am Telefon gesprochen hatte. Sie war jünger, als er angenommen hatte, klein und stämmig und hatte eine überraschend klare Gesichtshaut und eine Menge marmeladenfarbener Haare. Das einfache Kleid und das Kopfband entsprachen ihrer Position, in der Harry sie vermutete, die etwas zittrige Unsicherheit dagegen nicht.
»Sie müssen Harry Barnett sein«, sagte sie ein wenig atemlos. »Kommen Sie herein.« Harry trat in die geräumige Halle. »Athene ist im Wintergarten.« Athene, fiel Harry auf. Nicht Dr. Tilson. »Hier entlang, bitte.«
Er folgte ihr durch die Halle in ein nachlässig möbliertes Wohnzimmer, das in den
Weitere Kostenlose Bücher