Die zehn besten Tage meines Lebens: Roman (German Edition)
dem Titel Are you there God, It’s Me Margaret von Judy Blume.
Ich hob also den Kopf, aber nicht etwa, weil ich mir große Hoffnungen machte – ich hatte mich längst damit abgefunden, dass ich keine Freunde haben würde -, sondern weil ich eben das Ende des Kapitels erreicht hatte und es in der Klasse plötzlich still geworden war. Dann begannen meine Mitschüler zu lachen. Ihr vereinzeltes Gekicher, zunächst noch unterdrückt, schwoll rasch zu dröhnendem Gelächter an.
Ich hätte gerne mitgelacht, aber ich tat es nicht. Warum lachten die anderen?
Ich werde kein Blatt vor den Mund nehmen; Pen würde nämlich genau dasselbe sagen, wenn sie jetzt hier wäre: Meine Mitschüler lachten, weil Penelope Goldstein ein äußerst seltsam aussehendes, bemerkenswert hässliches Kind war.
Sie trug eine goldene John-Lennon-Brille und war gut einen Meter fünfundsechzig groß – in der vierten Klasse, schon das war schlichtweg ungeheuerlich. Sie überragte uns alle. Und sie wog mindestens neunzig Kilo – oder jedenfalls sah sie ganz danach aus. Sie quoll an allen Ecken und Enden aus ihrer blau-weißen Schuluniform. Unter der Bluse mit Bubikragen zeichneten sich dicke, speckige Schwimmreifen ab, und der Faltenrock spannte derart über ihren Oberschenkeln, dass gar keine Falten mehr zu sehen waren. Die dunkelblauen Kniestrümpfe reichten ihr nur bis halb über die Waden. Ihre grauenhaft fettigen, hundsbraunen Locken taten ein Übriges. Sie hätte Frankensteins Tochter sein können (ihre Worte, nicht meine).
Ich lachte nicht mit, aber nicht etwa, weil ich sie sogleich ins Herz geschlossen hatte oder weniger gemein war als meine Mitschüler, sondern aus reiner Faulheit.
»Aber, Kinder!«, rief Mrs. Hoffman und klopfte auf ihren Schreibtisch, worauf prompt Ruhe einkehrte. »Heißen wir so neue Mitschüler willkommen? Meine Klasse nicht! Ich erwarte von euch, dass ihr Penelope mit der Liebenswürdigkeit begrüßt, die wir allen unseren Schülern in der vierten Klasse beigebracht haben.«
»Hallo, Penelope«, sagten alle im Chor. Alle bis auf mich.
»Hallo, Leute.« Sie entblößte ihr überdimensionales Zahnfleisch und lächelte uns an. Ihre Gene hatten ihr wirklich übel mitgespielt. Sie hatte nichts, aber auch gar nichts Hübsches an sich. Interessanterweise schien sie der Lachanfall meiner Mitschüler nicht im Geringsten irritiert zu haben. Das hätte in mir eigentlich bereits den Verdacht aufkeimen lassen sollen, dass uns eine wunderbare Freundschaft beschieden war, aber ich war viel zu gefesselt von meinem Buch, das gerade so richtig spannend wurde.
Mrs. Hoffman führte Penelope in die hinterste Reihe, weil sie sonst den hinter ihr sitzenden Kindern die Sicht auf die Tafel versperrt hätte, und ich vergaß sie. Sie war nur eine weitere Mitschülerin.
Und dann kam die Mittagspause.
Ich glaube, ich habe bereits erwähnt, dass ich als Kind klapperdürr war. Mit knapp einem Meter zwanzig war ich außerdem die Kleinste in der Klasse. Meine Eltern fürchteten stets, ich könnte verhungern (eine Sorge, die ich mit Beginn der Pubertät übrigens gründlich zerstreuen konnte).
Ich setzte mich mit meinem Lunchpaket an einen Tisch in der Schulkantine. Ich weiß noch, dass ich einen Mordshunger hatte und auf ein Sandwich mit Hackbratenfüllung hoffte. Doch als ich meine Lunchbox öffnete, enthielt sie nicht die üblichen, von Mom oder Grandmom ordentlich gewickelten vier Päckchen, sondern nur einen Haufen zerknülltes Butterbrotpapier.
Kein Hackbratensandwich weit und breit. Kein Nudelsalat, kein Mais, keine Salzbrezeln von Snyder’s (die liebte ich nämlich ganz besonders). Kein Honeycrisp-Apfel (und das, wo diese Sorte im Spätherbst doch geschmacklich ihren Gipfel erreicht, wie Sie sicher wissen). Jemand hatte mir mein Mittagessen geklaut!
Ich sprang auf, um mich hilfesuchend an eine der Pausenaufsichten zu wenden, aber es war seltsamerweise keine zu sehen. Wo steckten die ganzen Lehrer? Wo steckte das Küchenpersonal? Wo war die Erwachsenenwelt abgeblieben?
Ich sah mich um. Niemand schaute in meine Richtung, aber es war auffallend still. Mir entging nicht, dass Seth Rosso, der Mistkerl, seinen Bruder Tom angrinste. Dass Kerry Collins und Olivia Wilson in sich hineinkicherten.
Ich verließ die Schulkantine und stapfte den Korridor entlang zum Lehrerzimmer, um mich bei einem Erwachsenen zu beschweren. An der Tür des Lehrerzimmers hing ein Anschlag: »Besprechung. In dringenden Fällen ist der stellvertretende Dir.
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