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Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)

Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)

Titel: Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Conrad
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weiteren Mitglieder ihrer Gruppe an diese Gier verloren. Nach James‘ Verlust waren alle anderen vor derartigem Verlangen geheilt.
    Mehrfach hatten sie Akoloythoi aus der Ferne bei ihrer grausigen Arbeit beobachtet, wie sie die Seelen der Sünder mit Peitschen und Gewalt an ihrem Platz hielten. Wie sie unablässig darüber wachten, dass niemand den Platz seiner Höllenqualen verließ. Doch sie hatten sich vorsichtig bewegt, so lautlos und unauffällig, dass keiner dieser Dämonen auf sie aufmerksam geworden war. Ihr größter Vorteil mochte im Augenblick sein, dass niemand mit ihnen rechnete, denn nie zuvor hatten sich Menschen so frei durch die Hölle bewegt.
    „Wir nähern uns dem Fluss“, flüsterte Robert hinter Eleanor. „Er muss jetzt schon ganz nah sein.“
    Und dann sahen sie es. Die letzten Nebelschwaden teilten sich vor ihnen und der Grenzfluss wurde sichtbar. Eleanor und ihre Gefährten hielten vor Schreck die Luft an, als sie die gewaltige schwarze Wand erblickten, die sich senkrecht vor ihnen in den nebligen Himmel erhob. Denn der Grenzfluss zum sechsten Kreis der Hölle floss nicht in einem gewöhnlichen Flussbett. Stattdessen schien an eben jener Stelle, an welcher er das diesseitige Ufer berührte, die gesamte Welt um neunzig Grad gekippt, so dass sowohl der Fluss selbst, als auch das jenseitige Ufer vor ihnen wie eine Wand in den Himmel ragten. Auch hier war das Wasser tiefschwarz und von einer öligen und zähen Konsistenz, wie Pech oder Teer, in dem die gefangenen Seelen kochten und zu ersticken drohten.
    William war kreidebleich neben Eleanor getreten. „Wie sollen wir da hindurch kommen?“, fragte er kleinlaut. „Wir können doch keine Wände hinauflaufen.“
    Eleanor schüttelte fassungslos den Kopf, ohne den Blick von jenem unheimlichen Schauspiel abzuwenden, dessen Zeuge sie waren.
    „Wir könnten den Fluss entlang gehen“, hörte sie Toby zu ihrer Rechten. „Jeder Fluss hat eine Furt, an welcher man ihn durchschreiten kann. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie eine Furt bei diesem Fluss aussehen könnte, aber vielleicht finden wir etwas Ähnliches.“
    „Er hat recht“, schaltete sich der alte Mann ein, der Eleanor nach seiner Rettung aus dem Flammensee im Namen aller gedankt hatte. „Eine andere Wahl haben wir nicht. Hier kommen wir nicht hinüber, aber an anderer Stelle mag es anders aussehen.“
    Es dauerte eine Weile, bis Eleanor sich umsah und ihr bewusst wurde, dass ihre Begleiter sie ansahen. Offenbar hatte ein jeder sie als Führer anerkannt und wollte ihre Zustimmung hören. Erschöpft nickte sie und begann sich nach rechts in Bewegung zu setzen. Das leise Poltern der nackten Füße hinter sich verriet ihr, dass ihre Gefährten ihr folgten, doch in diesem Augenblick wäre es ihr egal gewesen. Nie zuvor, seit ihrem Fall in die Hölle, hatte sie sich so müde und matt gefühlt. Fast schien es, als habe dieser Ort das letzte bisschen Kraft aus ihr gesaugt und ließ sie nun verbraucht und leer zurück. Sie musste nicht zurückblicken, um zu wissen, dass sie ein erbärmlicher kleiner Haufen waren. Abgerissen, die meisten von ihnen halbnackt, durch Jahre der Angst und Schmerzen geschunden und mehr tot als lebendig. Sie hatten nicht den Hauch einer Chance. Niemals würden sie heil aus dieser Sache herauskommen, niemals würden sie die Hölle hinter sich lassen können. Nicht einmal mit Raphaels Hilfe, wenn sie ihn denn je fanden.
    „Eleanor, geht es dir nicht gut?“, erklang plötzlich Allys Stimme neben ihr und die kleinen, zarten Finger der jungen Frau schlossen sich um die ihren. Eleanor blickte auf und sah Allys, die ewig ängstliche und verzagte Allys, die nun zwischen ihr und Robert herlief und sich an beiden festhielt.
    „Diese Welt ist schrecklich deprimierend“, stieß Allys hervor und blickte dabei mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung auf die Umgebung. „Es hilft, wenn du jemanden von deinesgleichen berühren kannst. Es ist besser, sich auf einen Menschen zu konzentrieren, als auf all dieses Grauen hier.“
    Eleanor nickte tapfer, doch gerade in dem Augenblick, da sie etwas erwidern wollte, erklang Roberts Stimme.
    „Was ist das dort vorn?“, zischte er gepresst.
    Sie folgten seinem Blick und erkannten in einer Entfernung von vielleicht zweihundert Metern eine ungewöhnliche Strömung in den schwarzen, öligen Massen des Flusses. Dort bildeten sich Stromschnellen und Wirbel, in denen sie beim Näherkommen immer wieder Arme, Beine und andere

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