Die zehnte Kammer
die Höhle, wann immer Luc es irgendwann einmal einrichten könne.
Als die Archäologen an einem windigen Sonntag im Oktober nacheinander im Lager bei der Abtei eintrafen, war Luc schon seit einer Woche zusammen mit zwei Doktoranden dort. Pierre, ein ursprünglich aus Sierra Leone stammender Pariser, und Jeremy, ein Brite mit nordenglischem Akzent, bildeten ein ungleiches Paar. Pierre war groß und athletisch, während Jeremy blass und schwächlich wirkte. Beide hatten jedoch einen jungenhaften Humor und waren ungeheuer stolz, dass sie an einer epochemachenden Grabung wie dieser mitwirken durften. Sie arbeiteten unermüdlich, um das Camp für die Ankunft des Teams vorzubereiten. Die Wohnwagen hatten sie im Kreis aufgestellt, sodass sie an eine Wagenburg im Wilden Westen erinnerten. Leitende Mitglieder des Teams bekamen einen Wohnwagen für sich allein, während die Doktoranden sich zu zweit oder zu dritt einen teilen mussten. Für einfache Studenten hatten sie Zelte aufgestellt. Alle Wohnwagen verfügten über bequeme Schlafkojen, in den luxuriöseren gab es sogar kleine Sitzecken mit Tischen, an denen man auch arbeiten konnte. Elektrizität gab es keine, aber jeder Wohnwagen und jedes Zelt waren mit Gaslaternen und einem Campingkocher ausgestattet. Alles war perfekt durchorganisiert.
Luc hatte darauf bestanden, keinen größeren Wohnwagen als seine Stellvertreter zu beziehen. Er überlegte lange, wo er Sara unterbringen sollte. Befand sich ihr Quartier zu nahe bei seinem, konnte man das gleich als Andeutung verstehen, und wenn es zu weit weg war, ebenfalls. Am Ende entschloss er sich dazu, ihr einen Wohnwagen zuzuteilen, der durch zwei andere von seinem getrennt war.
In der Mitte des Kreises errichteten sie ein Küchenzelt mit Vorratskammer und stellten daneben ein großes Zelt auf, in dem man bei schlechtem Wetter an Campingtischen gemeinsam essen konnte. Das Letzte, was sie aufbauten, war ein Container, in dem das Grabungsbüro und ein Labor Platz fanden, komplett mit einem Generator, der Computer und Analysegeräte mit Strom versorgte. Neben dem Küchenzelt schaufelten sie eine breite Grube für die obligatorischen nächtlichen Lagerfeuer und stellten ringsum hölzerne Weinkisten als Sitzgelegenheiten auf. Ein Bereich der zerfallenen Scheune wurde mit Chemieklos zur Herrentoilette umfunktioniert, ein anderer zur Damentoilette. Außerdem gab es zwei Waschräume mit Kaltwasserduschen, was unter den gegebenen Umständen das Äußerste an Komfort war. Trotzdem war Luc sich ziemlich sicher, dass niemand im Team mehr über die Lebensbedingungen im Camp meckern würde, wenn er erst einmal die Höhle mit eigenen Augen gesehen hatte.
Am nächsten Tag bei Sonnenaufgang gestand Luc sich ein, dass Saras bevorstehende Ankunft ihn nervös machte. Für gewöhnlich dachte er mehr an seine Arbeit als an irgendwelche Gefühle, warum also war er derart unruhig? Er hatte zahlreiche Ex-Freundinnen, und wenn er eine von ihnen nun absichtlich oder zufällig traf, verursachte ihm das keinerlei Bauchgrimmen.
Als er an diesem Morgen an seinem Schreibtisch saß und seinen Kaffee trank, fühlte er sich wirklich seltsam. Obwohl ihre Beziehung erst zwei Jahre her war, war seine Erinnerung an die Zeit mit Sara ziemlich verblasst. An ihr Aussehen und ihren Geruch erinnerte er sich noch am besten, während seine eigenen Gefühle während der Zeit mit ihr ihm nur noch undeutlich präsent waren.
Sara hatte schon immer großen Wert auf Pünktlichkeit gelegt, und so war sie unter den Ersten, die im Camp eintrafen. Als Pierre an Lucs Tür klopfte und ihm sagte, dass Sara Mallory jetzt da sei, war Luc nervös wie ein Schuljunge vor seinem ersten Rendezvous.
Sara war klein, schlank und sah entzückend aus.
Sie wirkte distanziert und ein wenig gestresst, als sie Luc gezwungen anlächelte. Dann küsste sie ihn kühl auf beide Wangen, als hätten sie nie etwas miteinander gehabt. Ihre Haut war so dünn und blass, dass er die Adern hindurchscheinen sah. Während sie ihn umarmte, atmete Luc den Duft ihrer Haare ein. Sofort erinnerte er sich wieder daran, wie gerne er an ihren langen braunen Haaren gerochen hatte, die ihr seidig über die nackten Brüste gefallen waren.
»Du siehst gut aus«, sagte er.
»Du auch.«
Sara hatte immer noch ihren ganz eigenen Stil. Sie trug eine sehr maskuline, schwarze Motorradjacke, der sie mit einem türkisfarbenen Seidenschal eine weibliche Note verlieh, und darunter einen kurzen, eng anliegenden
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