Die zehnte Kammer
Jahrhunderten versiegelten Höhle war äußerst empfindlich. Temperatur, Feuchtigkeit, pH-Wert des Gesteins und die ganz eigene Atmosphäre – ein Gemisch aus Luft und Ammoniak, das auf das Konto der Fledermäuse ging – bildeten zusammen ganz spezielle Bedingungen, die in diesem Fall ein optimales Umfeld für die Erhaltung der prähistorischen Malereien darstellten.
Luc durfte auf keinen Fall dieses Zusammenspiel der verschiedensten Faktoren aus dem Gleichgewicht bringen und damit eine Kettenreaktion der Zerstörung auslösen, wie dies andernorts bereits passiert war. In Lascaux hatte man beispielsweise schon kurz nach ihrer Entdeckung Touristen und ganze Schulklassen in die Höhle gelassen, bis deren Atemluft zu Schimmelbildung und Calcitflecken an den unersetzlichen Malereien geführt hatte. Nun war Lascaux schon seit Jahrzehnten für die Öffentlichkeit gesperrt, und die Wissenschaft suchte immer noch nach Wegen, die Schäden wieder zu beseitigen.
In Ruac sollte das nicht passieren, weshalb von Anfang an auf die bestmögliche Konservierung der Kunstwerke geachtet wurde.
Aus diesem Grund war für Luc Elisabeth Coutard das wichtigste Mitglied in seinem Team. Sie war für die Erhaltung des Ökosystems der Höhle zuständig. Kam es durch die Arbeit des Teams zu Pilzbefall oder anderen Problemen dieser Art in der Höhle, würde das Lucs Ruf nachhaltig schaden.
Am Montag kurz nach Tagesanbruch kletterte Luc zusammen mit Coutard, dem Fledermausspezialisten Desnoyers und dem Speläologen Gilles Moran hintereinander die in die Felswand eingelassene Metallleiter hinauf. Ihnen folgten Lucs Doktoranden Pierre und Jeremy, die jeder einen dicken Stapel aus halbfestem Gummi bestehender Matten schleppten. Die sollten den empfindlichen Höhlenboden schützen.
Moran, der sich diese Matten hatte patentieren lassen, war ein zäher, durchtrainierter Mann, dessen schlanker Körper sich auch durch sehr schmale Felsöffnungen zwängen konnte. Ihm oblagen der Schutz der Höhle und die Sicherheit der Forscher ebenso wie die Vermessung sämtlicher Kammern mittels hochmoderner Lasertechnik.
Elisabeth Coutard war eine schon etwas ältere, vornehm wirkende Frau, die sich ihr langes weißes Haar zu einem praktischen Knoten hochgesteckt hatte. In ihrem Rucksack befand sich ein Teil ihrer hochempfindlichen Messgeräte, den Rest trug Luc für sie.
Desnoyers, der mit Infrarot-Stirnlampe und Nachtsichtgerät ausgerüstet war, hatte einige Fledermausfallen an seinem Gürtel, die bei jedem seiner Schritte aneinanderklapperten.
Alle Forscher trugen weiße Overalls mit Kapuzen sowie Gummihandschuhe, Bergarbeiterhelme und Einweg-Atemschutzmasken, die sie einerseits vor toxischen Gasen schützen, andererseits die Höhle vor den Keimen in ihrer Atemluft bewahren sollten. Nachdem das Team für ein Foto auf der Leiter posiert hatte, schloss Luc das schwere Eingangstor auf und öffnete es.
Die Expedition hatte offiziell begonnen.
Die Morgensonne drang ein Stück weit in die Höhle und beleuchtete den ersten Saal. Zufrieden beobachtete Luc Elisabeth Coutards Reaktion auf die Malereien. Als er eine Reihe von auf Stativen montierten Lampen einschaltete, in deren Licht die Farben noch einmal so intensiv leuchteten, blieb Coutard regungslos stehen. Wie gelähmt von der Schönheit der galoppierenden Pferde, der Kraft der Wisentherde und der Würde des großen Stiers atmete sie durch ihre Maske langsam ein und aus und sagte eine Weile überhaupt nichts mehr.
Moran hingegen wirkte eher wie ein Chirurg, der sorgfältig einen Patienten in Augenschein nahm, bevor er den ersten Schnitt ansetzte. Er sah sich intensiv in der Höhle um, bevor er die ersten Bodenmatten verlegte. Kaum waren sie an ihrem Platz, stellte sich Desnoyers darauf und richtete sein Nachtsichtgerät an die dunkle Höhlendecke. »Pipistrellus pipistrellus«, sagte er und deutete auf ein paar schemenhaft zu erkennende Tiere über ihren Köpfen. »Und da ist eine Rhinolophus ferrumequinum!«, fügte er aufgeregt hinzu. Er verließ die Matte und wollte dem Tier in die Höhle hineinfolgen, was ihm eine scharfe Rüge von Moran eintrug. Er solle gefälligst warten, bis alle Matten verlegt seien.
»Da hat er wohl ein ganz besonderes Tier entdeckt«, sagte Luc zu Coutard.
Statt zu antworten, konnte sie nur tief seufzen, so überwältigt war sie vom Anblick der Höhlenmalereien. Luc legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter und sagte: »Ich weiß.« Die Berührung durchbrach den Bann. Coutard
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