Die zehnte Kammer
hinweg.«
»Wirklich?« Hugo stand auf und suchte nach seinem Autoschlüssel.
»Hey, du hast zu viel getrunken«, schimpfte Luc.
»Mir geht es blendend«, lallte Hugo. »Ich fahr auch langsam und kurbel mein Fenster runter. Frischluft wirkt Wunder.«
»Lass mich dich fahren.«
»Nein, schon in Ordnung. Ich bin topfit. Du musst morgen wieder in die Höhle. Da brauchst du deinen Schlaf.«
Sie diskutierten noch eine Weile, bis Luc schließlich nachgab.
»Pass auf dich auf«, sagte er.
»Werd ich. Und warte nicht auf mich.«
Bis Hugo im Dorf ankam, war er wieder nüchtern genug, um doch daran zu zweifeln, ob das gerade seine beste Idee war. Er wusste lediglich, dass Odile drei Häuser vom Café ihres Vaters entfernt wohnte. Aber in welcher Richtung und auf welcher Straßenseite?
Wenn er an jede mögliche Tür klopfte, machte er sich zum Affen, bis er Odile gefunden hatte. Entschuldigen Sie, dass ich Sie geweckt habe, Madame, aber wissen Sie vielleicht zufällig, wo die Tochter des Bürgermeisters wohnt? Ich will sie nämlich bumsen.
Auf der Hauptstraße war keine Menschenseele zu sehen, schließlich war es schon nach Mitternacht. Hugo fuhr langsam auf das Café zu und zählte die Türen ab. Das Haus drei Türen weiter auf derselben Straßenseite war dunkel, und vor der Tür stand ein schweres Motorrad. Das kannst du streichen, dachte Hugo.
Er zählte drei Türen auf der anderen Seite des Cafés und sah, dass in diesem Haus im ersten Stock Licht brannte. Er hielt an, um sich umzusehen. Hatte sie nicht etwas von einem Obstgarten gesagt? Richtig, beim Nachtisch hatte sie etwas von Äpfeln, Kirschen und Birnen erzählt. Aber was waren das für Bäume im Garten dieses Hauses? Als eingefleischter Stadtmensch konnte Hugo keinen Baum von einem Busch unterscheiden. Er parkte am Straßenrand und schlich sich am Haus entlang, um einen Blick in den Garten zu werfen. Zum Glück war der Mond aufgegangen und schien auf ein gutes Dutzend Bäume, die in Reih und Glied hinter dem Haus standen.
Das muss ein Obstgarten sein, dachte Hugo hoffnungsvoll.
Das Haus war aus zitronengelbem Sandstein erbaut und hatte blaulackierte Fenster und Türen. Hugo ging zur Eingangstür und klopfte. Die Fenster im Erdgeschoss waren dunkel, aber bei einem von ihnen standen die Vorhänge einen Spalt weit offen, sodass er ins Innere des Wohnzimmers blicken konnte. Es war leer.
Hugo trat ein paar Schritte zurück und blickte hinauf zu den Schlafzimmerfenstern, hinter denen Licht brannte. Er nahm ein paar kleine Steine vom Weg zwischen den Blumenbeeten und warf sie gegen die Scheibe. Keine Reaktion.
Das Vernünftigste wäre gewesen, zu seinem Auto zu gehen und zurück ins Camp zu fahren. Schließlich wusste er ja nicht einmal, ob er vor dem richtigen Haus stand. Dann aber siegte doch die Frechheit der Pariser. Er ging schnurstracks auf die Eingangstür zu und drückte auf die Klinke.
Es war nicht abgeschlossen.
»Hallo?«, rief er hoffnungsvoll. »Odile? Bist du da? Ich bin’s, Hugo!«
Er ging hinein und sah sich um. Das Wohnzimmer war geschmackvoll eingerichtet und aufgeräumt, so, wie man es von einer allein lebenden Frau erwartete.
»Hallo?«, rief er nochmals und warf einen Blick in die Küche. Sie war klein und wie geleckt, nicht einmal Geschirr lag im Spülbecken. Beim Verlassen des Wohnzimmers sah er, dass auf einem Beistelltisch ein paar Briefe lagen, darunter auch eine Stromrechnung, die an Odile Bonnet adressiert war. Hugo fühlte sich auf einen Schlag besser.
»Hallo, Odile?«
Am Fuß der Treppe blieb er unschlüssig stehen. Nur ein Vergewaltiger schlich sich ungebeten ins Schlafzimmer einer Frau.
»Ich bin’s, Hugo! Bist du da?«
Auf einmal hörte er gedämpfte Musik. Er folgte der Melodie zurück bis in die Küche.
Und dann sah er es, über dem Küchentisch. Lebensgroß!
»Lieber Himmel!«, keuchte er. »Das gibt’s doch nicht!«
Hugo schaute sich um, ob er auch wirklich allein war, und zog dann sein Handy aus der Hosentasche, um schnell ein Foto zu machen. Die Musik wurde lauter. Eigentlich hätte er jetzt gehen und sich das Foto morgen in Ruhe ansehen müssen, wenn er wieder nüchtern war. Aber wider besseres Wissen folgte er weiter der Musik.
Sie schien durch eine Tür am hinteren Ende der Küche zu kommen. Hugo öffnete die Tür und sah, dass dahinter eine Treppe hinab in den Keller führte. Die Musik war jetzt lauter. Gitarren, ein Akkordeon, ein Schlagzeug. Ein Musette-Walzer, nicht gerade sein Geschmack. Eine
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