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Die zehnte Kammer

Die zehnte Kammer

Titel: Die zehnte Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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entgegen.
    Allerdings klammerten sie sich so fest an die Baumstämme, dass es unmöglich war, sie einfach abzunehmen. Luc und Sara mussten die Ranken erst oben und unten durchschneiden, bis sie ein Stück davon abwickeln konnten. So dauerte es eine ganze Weile, bis sie einen Beutel voller Ranken und Blätter zusammen hatten. Von der anstrengenden Arbeit taten ihnen die Finger weh.
    »Eine noch«, verkündete Sara.
    Wieder ging sie vor, und Luc folgte ihr. Wären sie geradeaus weitergegangen, wären sie zur Felswand und an den Fluss gekommen, aber Sara, die eine topographische Karte bei sich hatte, bog vorher in Richtung eines stillgelegten Bahngleises ab, das in einiger Entfernung vom Fluss verlief. Die letzte Pflanze, nach der sie suchten, bevorzugte solche Industriebrachen, wo sich die Natur früher vom Menschen genutztes Land wieder zurückeroberte. Sara erklärte Luc das alles, aber er konnte sich nicht darauf konzentrieren. Er wollte sie so sehr, dass es fast wehtat, und ärgerte sich deshalb über sich selbst. Was war nur aus ihm geworden?
    Sein Vater war Manager in einer Ölfirma gewesen und ein typischer Mann seiner Generation. Er war gern in private Clubs gegangen, hatte viel getrunken und sich in seiner narzisstischen Arroganz eine junge Geliebte nach der anderen gesucht – obwohl er eine wunderschöne Frau hatte. Er war dann vor Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, sonst hätte er wohl jetzt noch genauso weitergemacht: ein lächerlicher alter Säufer und Schürzenjäger.
    Waren es die Gene oder die Umwelt, die einen prägten? Die alte, ewig gleiche Frage. Musste Luc seinem Vater denn wirklich alles nachmachen? Er hatte gesehen, wie seine Mutter gelitten hatte. Zum Glück hatte sie sich irgendwann scheiden lassen und war zurück in die USA gegangen.
    Dort hatte sie wieder geheiratet, diesmal einen reichen Dermatologen aus Boston, einen sanften, höflichen Menschen. Luc hatte trotzdem keine Zuneigung für ihn entwickeln können.
    Während er so schweigend hinter Sara herlief, stellte er sich immer wieder dieselbe Frage. Warum hatte er die Beziehung mit dieser Frau so vermasselt? Dabei war es die beste seines Lebens gewesen. Bei Sara hatte er sich wirklich wohl gefühlt.
    Und warum hatte er darüber bisher noch nie ernsthaft nachgedacht?
    Nach einer Weile erreichten sie die von Büschen und Unkraut vollständig überwucherten Bahngleise. Sara folgte ihnen nach Norden, und Luc, der immer noch vor sich hin grübelte, trottete wortlos hinter ihr her.
    Sie gingen direkt auf dem Gleis und passten die Länge ihrer Schritte dem Abstand der hölzernen Schwellen an. Neben den Schienen befand sich eine wilde Hecke aus Weißdorn. Sara sagte, sie würden ihre letzte Pflanze hier ganz bestimmt finden.
    Der Wind hatte den Morgennebel vertrieben, und die Sonne stand nun am strahlend blauen Himmel. Luc und Sara waren schon über eine Stunde unterwegs, und er wurde langsam etwas unruhig. Sein Handy hatte hier keinen Empfang. Falls es in der Höhle ein Problem gab, war er nicht erreichbar. Er wollte Sara gerade sagen, dass sie jetzt besser umkehrten, da sprang sie wie ein kleines Mädchen auf und ab und rief begeistert: »Ribes rubrum, Ribes rubrum!«
    Ein paar Meter vor ihnen sprießte zwischen den Weißdornbüschen ein Zweig mit hellgrünen, fünfgliedrigen Blättern heraus, an dem sogar noch Trauben roter Johannisbeeren hingen. Das lag am langen Sommer des Jahres und den bis vor kurzem noch sehr milden Temperaturen, wie Sara meinte.
    Die Beeren funkelten im Sonnenlicht wie rubinrote Perlen. Sara steckte sich eine in den Mund und schloss verzückt die Augen. »Säuerlich, aber lecker.« Luc öffnete den Mund, und sie legte ihm ebenfalls eine Beere auf die Zunge.
    »Da fehlt Zucker«, sagte er, und die beiden fingen an, Beeren zu pflücken, bis sie ganz rote Finger hatten und eine kleine Plastiktüte voll war.
     
    Im Lager angekommen, verbannten sie den Koch aus der Küche und nahmen sich Schneidebretter, Messer und einen großen Kochtopf. Entsprechend der vagen Beschreibung im Manuskript von Frater Barthomieu, schnitten sie die Ranken der Ackerwinde klein, bevor sie sie in einem aus einer Salatschüssel und einem Fleischklopfer improvisierten Mörser zusammen mit den Gerstenkörnern und den Johannisbeeren zu einem zähen Brei zerdrückten. Den verdünnten sie dann mit Wasser und kochten ihn so lange, bis das ganze Küchenzelt nach Johannisbeere und dem Grünzeug roch. Ein seltsames Aroma. Mit den Händen in den Hüften

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