Die zehnte Kammer
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Wie auf Bestellung klingelte plötzlich Gatinois’ Handy. Dankbar sprang er auf, entschuldigte sich und ging zum Telefonieren in die Bibliothek.
»Der telefoniert heute schon den ganzen Tag mit seinem Büro«, sagte seine Frau zu ihrer Schwester.
Der Banker schien enttäuscht darüber, dass er nun einen Zuhörer weniger hatte und erklärte seufzend: »Wir werden ja wohl nie erfahren, womit André wirklich seine Brötchen verdient, aber wenigstens sorgt er dafür, dass wir nachts sicher schlafen können. Noch einen Cognac?«
In der Bibliothek ließ sich Gatinois in einen der schweren Ledersessel fallen und betrachtete die Regale mit den protzigen Prachtbänden, die wohl nur der Staubwedel der Putzfrau jemals berührte.
Marolles hörte sich ziemlich mitgenommen an. »Bonnet hat wieder zugeschlagen.«
»Gibt der denn nie Ruhe?«, fragte Gatinois ungläubig. »Was ist denn jetzt schon wieder?«
»Jemand hat versucht, Simard und Mallory in Cambridge zu überfahren. Einer unserer Männer hat es mit eigenen Augen beobachtet. Die beiden wurden nur leicht verletzt, der Fahrer des Wagens konnte fliehen.«
»Unglaublich!«, schnaubte Gatinois. »Bonnets Tentakel reichen sogar bis nach England. Der Mann hat Nerven, das muss man ihm lassen.«
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Marolles.
»Im Hinblick worauf?«
»Auf unsere Pläne.«
»Gar nichts!«, sagte Gatinois. »Diese Sache hat mit unseren Plänen nichts zu tun. Führen Sie sie genau wie besprochen aus!«
EINUNDZWANZIG
Montagmorgen
Das Treffen bei PlantaGenetics mit Saras Freund Fred Prentice war für neun Uhr geplant. Die Biotech-Firma, die von einem Botanikprofessor der Universität Cambridge gegründet worden war, forschte nach neuen, biologisch aktiven Molekülen in Pflanzenauszügen. Deshalb summten in ihren Laboren rund um die Uhr unzählige Maschinen, die mit ihren Roboterarmen vollautomatisch alle möglichen Substrate durchtesteten, die man der Firma aus aller Welt zur Untersuchung geschickt hatte.
Sara und Fred hatten in etwa denselben wissenschaftlichen Hintergrund, und obwohl sie nie direkt zusammengearbeitet hatten, sahen sie sich öfter auf Tagungen und verfolgten die Forschungsarbeit des jeweils anderen mit großem Interesse. Obwohl er es nie ausgesprochen hatte, war Sara klar, dass Fred insgeheim für sie schwärmte. Einmal, bei einem Kongress in New Orleans, hatte er sie schüchtern gefragt, ob sie mit ihm zu Abend essen wolle. Sara hatte eingewilligt, weil er nett war und ziemlich einsam zu sein schien. Nur seine allergische Reaktion auf ein Gewürz in seinem Gumbo hatte sie damals vor seinem Gute-Nacht-Kuss gerettet.
So, wie Sara und Luc am nächsten Morgen in Cambridge im Taxi saßen, erinnerten sie an Zombies aus einem schlechten Film. Lucs linker Arm war bis zum Ellbogen einbandagiert, und wegen seiner geprellten Hüfte konnte er sich nur humpelnd bewegen. Sara hatte mehrere Pflaster im Gesicht, wo sie sich bei ihrem Sturz auf den Asphalt die Haut aufgeschürft hatte. Weil sie beide spät aufgestanden waren, hatten sie das Frühstück ausgelassen und sich direkt in der Empfangshalle des Hotels getroffen. Als sie sich dann im Taxi gegenseitig musterten, mussten sie unwillkürlich lachen.
»Wie lange brauchen wir bis zu PlantaGenetics?«, fragte Luc den Fahrer.
»Nur zehn Minuten, die Milton Road hinauf zum Science Park. Sind Sie spät dran?«
»Ein bisschen«, sagte Sara. Es war schon neun.
»Magst du vielleicht anrufen?«, fragte Luc.
Sara nahm ihr Handy und wählte.
»Hallo, Fred, hier ist Sara«, sagte sie und versuchte, fröhlich zu klingen. »Tut mir leid, aber wir werden uns ein paar Minuten verspäten …«
Luc blickte durch die Windschutzscheibe nach vorne und sah, wie in einiger Entfernung etwas wie ein Blitz kurz grell aufleuchtete. Gleich danach erschütterte ein dumpfer Schlag die Stadt. Es klang wie eine gewaltige Explosion.
Über den Baumwipfeln vor ihnen stieg ein weißer Rauchpilz in die Luft.
»Grundgütiger!«, stieß der Taxifahrer hervor. »Das muss ganz in der Nähe der Adresse sein, zu der Sie wollen.«
Sara hatte ihr Handy noch am Ohr. »Fred?«, rief sie. »Fred?«
Sie schafften es nicht mehr zum Science Park. Die Rettungskräfte hatten bereits die Straße gesperrt und den gesamten Verkehr umgeleitet.
Luc und Sara blieb nur, zurück zu ihrem Hotel zu fahren, den Fernseher einzuschalten und die Live-Berichterstattung auf Sky und ITV zu verfolgen. Draußen heulten Sirenen, und
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