Die zehnte Kammer
sich die folgenden Ereignisse in nicht mehr als fünf oder sechs Sekunden abspielten, nahm er sie in einer Art Zeitlupe und mit einer seltsamen Klarheit wahr, die ihm und Sara vermutlich das Leben rettete.
Der Wagen raste mit mörderisch hoher Geschwindigkeit auf sie zu. Luc packte Sara im letzten Moment am Arm und schubste sie weg.
Auch Luc sprang zur Seite, aber er war nicht schnell genug. Ein Kotflügel des Wagens streifte ihn an der Hüfte. Einen Schritt langsamer, und er wäre unter das heranrasende Blechmonster geraten. So kam er nur ins Straucheln und fiel direkt neben Sara auf die Straße.
Der Wagen schrammte funkensprühend an der Ecke eines Wohngebäudes vom Pembroke College entlang, riss eine Regenrinne ab und schleuderte mit quietschenden Reifen zurück auf die Fahrbahn.
Luc und Sara, die immer noch am Boden lagen, nahmen sich bei der Hand und fragten fast gleichzeitig: »Alles in Ordnung?« Dann antworteten beide ebenfalls synchron mit Ja.
Es dauerte vier Stunden, bis sie endlich ins Bett kamen. Erst wurden sie in einem Krankenwagen verarztet, dann musste Lucs Hüfte in der Notaufnahme des Nuffield-Hospitals zur Sicherheit geröntgt werden, und schließlich mussten die beiden auf dem Polizeirevier noch ihre Aussagen machen. Im Krankenhaus hatte die junge asiatische Ärztin vom Dienst sich mehr für Lucs alte Wunde am Finger interessiert als für die oberflächlichen Schürfwunden, die er sich beim Sturz auf die Straße zugezogen hatte. »Das hat sich infiziert«, sagte sie. »Wie lange haben Sie das schon?«
»Anderthalb Wochen etwa.«
Sie untersuchte seine Hand gründlicher und fragte: »Haben Sie sich geschnitten?« Er nickte. »Ich habe schon ein Antibiotikum genommen, aber es hat nicht viel geholfen.«
»Dann ist es besser, ich nehme eine Probe davon und lege eine Kultur an. Möglicherweise haben Sie da einen multiresistenten Staphylokokkus hineinbekommen. Außerdem gebe ich Ihnen verschiedene Tabletten mit, die Sie regelmäßig nehmen müssen. Hier ist meine Karte, rufen Sie mich in drei Tagen an, dann habe ich das Testergebnis.«
Die Polizei nahm den Unfall zwar ernst, wollte aber Luc und Sara nicht so recht glauben, dass es sich um einen gezielten Anschlag auf sie gehandelt haben könnte. Man wies die Streifenwagen an, nach einer blauen Limousine mit einem betrunkenen Fahrer zu suchen. Außerdem sollten die Bilder der Überwachungskameras im Stadtzentrum ausgewertet werden. Die Polizisten versprachen, sich bei Luc und Sara zu melden, sobald der Täter gefasst war.
Stumm vor Erschöpfung und stark mitgenommen verließen sie das Revier. Luc hätte Sara am liebsten in den Arm genommen, aber er wollte ihren Traumata diese Nacht nicht noch ein weiteres hinzufügen. Schließlich war sie es, die ihn an sich zog. Ihre Arme um seinen Oberkörper zu spüren war wunderbar, aber der Moment dauerte nicht lange an. Ein paar Augenblicke später hinkten sie allein auf ihre getrennten Zimmer zu.
Gatinois hoffte fast, dass das Telefon klingeln und ihn von der Gegenwart seines Schwagers befreien würde, in dessen teurer, aber geschmacklos eingerichteten Wohnung er nun schon zwei Stunden beim Abendessen verbracht hatte. Der Mann war wohl so etwas wie ein internationaler Währungsmakler. Gatinois wusste es nicht genau, weil er jedes Mal, wenn sein Schwager über den schwachen Dollar und den starken Euro jammerte, ziemlich rasch das Gespräch abbrach. Die Vorstellung, Geld zu machen, indem man es auf elektronischem Weg von einer Währung in die andere umwandelte, war ihm zuwider. Was tat dieser Mann für das Wohl der Menschheit? Oder für sein Land?
Gatinois’ Frau und ihre Schwester schien das nicht sonderlich zu stören. Seine Frau hörte sich das alles geduldig an und nippte an ihrem Cognac, mit dem sie auf die Beförderung ihres Bruders zum Abteilungsleiter in seiner Bank angestoßen hatte.
Gatinois wusste, dass er etwas für sein Land tat. Selbst heute, am Sonntag, hatte er stundenlang telefoniert und war sogar unangemeldet im Büro erschienen, um sich über die neuesten Entwicklungen informieren zu lassen.
Er hatte mit seiner Meinung, was Bonnets Rücksichtslosigkeit anging, absolut richtiggelegen und hielt es Marolles jetzt genüsslich vor. Nach allem, was in den vergangenen zwei Wochen ohnehin schon geschehen war und auf Bonnets Konto ging, hatte er nun auch noch das Lager der Archäologen überfallen. Der Mann hatte wahrlich eine brutale Ader.
Und so etwas musste man
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