Die Zeit: auf Gegenkurs
übrig«, antwortete Appleford nach kurzem Nachdenken. »Demnach hat das Werk noch nicht das Typoskriptstadium erreicht. Und einer von meinen Mitarbeitern hat gesagt, daß noch einige Buchausgaben irgendwo im Umlauf sind, wahrscheinlich in privaten Bibliotheken.«
»Also ist es noch bis zu einem gewissen Grad verbreitet. Es ist theoretisch noch immer möglich, daß jemand darauf stößt.«
»Wenn sie Glück haben, ja. Aber vier Ausgaben sind nicht viel, wenn man bedenkt, daß einst über fünfzigtausend gebundene Exemplare und dreihunderttausend Taschenbuchausgaben im Umlauf waren.«
»Haben Sie es gelesen?« fragte Mavis.
»Ich … habe es flüchtig durchgeblättert. Ich halte es für
ein bedeutendes Werk. Und für originell. Ich würde nicht von ›übertriebenen Platitüden‹ sprechen.«
»Wenn der Anarch wiedergeboren ist«, meinte Mavis, »wird er wahrscheinlich versuchen, seine religiöse Karriere wieder aufzunehmen. Sofern er keinem Attentat zum Opfer fällt. Und ich habe das Gefühl, daß er klug ist; sein Gott in einer Kiste hatte etwas Realistisches, Praktisches an sich – er war kein Spinner. Und er kann sich auf seine Erfahrungen über das Jenseits stützen. Ich glaube, er wird sich daran erinnern, im Gegensatz zu den meisten anderen Altgeborenen; oder jedenfalls wird er behaupten, daß er sich daran erinnert.« Vernichtender Zynismus schwang in ihrer Stimme mit. »Der Rat ist nicht sehr erbaut von dem Gedanken, daß der Anarch wieder ins Religionsgeschäft einsteigt; man ist äußerst skeptisch. Ausgerechnet jetzt, wo wir dabei sind, die letzten Ausgaben von Gott in einer Kiste zu löschen, taucht er auf, um etwas Neues zu schreiben … Und wir haben das Gefühl, daß sein neues Werk noch schlimmer sein wird, radikaler, zerstörerischer.«
»Ja, ich verstehe«, murmelte Appleford nachdenklich. »Weil er tot war, wird er behaupten können, authentische Visionen aus dem Jenseits zu haben; daß er mit Gott gesprochen, das Jüngste Gericht erlebt hat – das übliche Material, das die Altgeborenen mitbringen … aber ihm wird man glauben; ihm werden die Leute zuhören.« Er dachte in diesem Zusammenhang an Ray Roberts. »Ich weiß, daß Sie und der Rat Roberts nicht schätzen«, sagte er. »Aber wenn Ihnen die Lehren, die der Anarch mitbringt, Sorgen machen …«
»Ich verstehe, was Sie meinen«, nickte Mavis McGuire. Sie dachte nach. »Also gut; wir bearbeiten die Hermes solange, bis sie uns den Namen des Friedhofs verrät, und wenn wir ihn haben, geben wir ihn an Roberts weiter. Zumindest …« Sie zögerte. »Ich werde das dem Rat vorschlagen; die Entscheidung liegt natürlich bei ihm. Und falls die Leiche sich nicht mehr auf dem Friedhof befindet, werden wir uns auf das Vitarium ihres Mannes konzentrieren.«
»Man könnte das legal erledigen«, sagte Appleford; er war stets für Mäßigung. »Der Anarch kann offen und ehrlich durch ein Gebot an das Vitarium erworben werden.« Natürlich erwähnte er nicht seine Verbindung zu Anthony Giacometti; das ging die Bibliothek nichts an. Tony wird sich beeilen müssen, sagte er sich; sobald sich der Löschungsrat einmischt, wird sich alles überstürzen. Er fragte sich, ob der Auftraggeber, den Giacometti vertrat, die Bibliothek überbieten konnte – oder wollte. Ein interessanter Gedanke: eine Machtprobe zwischen den Löschern und dem mächtigsten religiösen Syndikat von Europa.
Mavis McGuire legte auf, und Appleford blätterte in der Abendzeitung … nur um mit Berichten über Ray Roberts’ Pilgerfahrt konfrontiert zu werden; mit etwas anderem schien sich die Zeitung nicht zu beschäftigen. Umfangreiche polizeiliche Vorsichtsmaßnahmen und so weiter; es langweilte ihn, und er ging in die Küche, um einen Schluck Sogum zu trinken.
Bevor er dazu kam, klingelte erneut das Vidfon. Er ließ das Sogum stehen und nahm den Hörer ab. Es war wieder Mavis McGuire. »Ein Löscher ist jetzt bei Mrs. Hermes«, erklärte Mavis. »Man wird sie verhören; es ist alles vorbereitet. Der Rat vermutet, daß das Vitarium wahrscheinlich ein kalkuliertes Risiko eingegangen ist und den Anarchen ausgegraben hat, um ihn nicht zu verlieren; er ist kommerziell zu wertvoll, als daß sie sich das leisten könnten. Der Rat meint, daß wir den Friedhof nicht zu finden brauchen; es genügt, wenn wir uns an das Vitarium wenden. Wir werden sofort jemanden hinschikken; der Rat möchte eingreifen, bevor das Institut für heute schließt. Wir schicken meine Tochter«, fügte sie
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