Die Zeit: auf Gegenkurs
hatte mit dem Brief bereits begonnen; anderthalb Absätze, auf ein gefaltetes Blatt gekritzelt, das auf ihrem Bett lag, daneben ein Kugelschreiber; aber sie war nicht weitergekommen. Offenbar war es zuviel für sie.
»Okay«, sagte er. »Schreib ihm; er wird den Brief nächste Woche bekommen.«
Sie sah sich unglücklich um. »Hast du in deinem Wagen irgend etwas zu lesen?« fragte sie.
»Lies das.« Er warf ihr den Monday-Herald zu.
Lotta fuhr zurück. »Oh, nein. Niemals.«
»Langweilst du dich schon mit mir?« fragte Tinbane, noch immer gereizt.
»Ich lese immer um diese Zeit.« Sie wanderte suchend durchs Zimmer. Auf dem Tisch neben dem Bett fand sie eine Gideon-Bibel. »Die könnte ich lesen«, sagte sie und setzte sich wieder. »Ich werde ihr eine Frage stellen und sie dann auf schlagen; man kann die Bibel auf diese Weise benutzen. Ich habe es schon oft getan.« Sie konzentrierte sich. »Ich werde sie fragen«, entschied sie, »ob die Bibliothek uns finden wird.« Sie schlug das Buch auf und legte mit geschlossenen Augen ihren Finger auf die linke obere Seite. »Wohin ist dein Liebster gegangen, oh, du Schönste unter den Frauen?« las sie laut und mit sorgfältiger Betonung vor. »Wohin hat sich dein Liebster gewandt?« Sie blickte auf und sah ihn feierlich an. »Weißt du, was das bedeutet? Du wirst mir weggenommen.«
»Vielleicht ist Sebastian damit gemeint«, sagte er, halb im Scherz.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich liebe dich. Also muß es sich auf dich beziehen.« Sie befragte das Buch erneut. »Sind wir hier im Hotel in Sicherheit, oder sollen wir uns ein anderes Versteck suchen?« Sie öffnete es wieder aufs Geratewohl und deutete blind auf eine Stelle. »Psalm 91«, informierte sie ihn. »Der du wohnst im Schutze des Höchsten, weilst im Schatten des Allmächtigen.« Sie dachte nach. »Ich glaube, dieser Ort ist damit gemeint. Also sind wir hier so sicher wie anderswo … Aber sie werden uns trotzdem finden. Wir können nichts dagegen tun.«
»Wir können uns den Weg freischießen«, schlug Tinbane vor.
»Nicht nach der Bibel. Es ist hoffnungslos.«
Amüsiert von ihrem Fatalismus, aber auch verärgert, sagte er: »Wenn ich diese Einstellung hätte, wäre ich schon seit Jahren tot.«
»Das ist nicht meine Einstellung, sondern …«
»Natürlich ist es deine Einstellung. Du suchst dir die Bedeutung heraus, die du unterbewußt finden willst. Nach meiner Meinung bestimmt ein Mensch – ein Mann – sein Schicksal selbst. Vielleicht ist es bei den Frauen anders.«
»Ich glaube, im Zusammenhang mit der Bibliothek macht es keinen Unterschied«, sagte Lotta traurig.
»Das Denken der Männer unterscheidet sich in grundsätzlicher Weise vom Denken der Frauen«, erklärte Tinbane. »Um genau zu sein, es gibt einen fundamentalen Unterschied zwi schen verschiedenen Frauentypen. Nehmen wir dich im Vergleich zu meiner Frau Bethel. Du bist ihr nie begegnet, aber der Unterschied zwischen euch beiden ist enorm; nehmen wir nur zum Beispiel die Art, wie du liebst. Du liebst ohne Vorbehalt – der Mann, in diesem Fall ich, muß nichts besonderes tun oder besonderes sein. Auf der anderen Seite verlangt Bethel die Erfüllung bestimmter Kriterien. Zum Beispiel, was meine Kleidung betrifft. Oder wie oft ich mit ihr ausgehe, daß ich sie beispielsweise drei Mal in der Woche in einen Einlauf-Palast ausführe. Oder daß ich …«
»Ich höre etwas auf dem Dach«, unterbrach Lotta mit furchtsam klingender Stimme.
»Vögel«, sagte er. »Sie laufen herum.«
»Nein. Es ist größer.«
Er lauschte. Und er hörte es auch. Getrippel auf dem Dach; jemand kletterte über etwas hinweg. Kinder. »Es sind Kinder«, sagte er.
»Warum?« fragte Lotta. Sie starrte zum Fenster. »Sie schauen herein«, sagte sie.
Er fuhr herum und sah ein schmales, kleines ernsthaftes Gesicht hinter der Fensterscheibe des Hotelzimmers. »Die Bibliothek setzt sie ein«, stieß er heiser hervor. »Sie sind von der Kinderabteilung.« Er zog seine Pistole. Dann ging er zur Tür und griff nach der Klinke. »Ich schnappe sie mir«, sagte er zu Lotta. Er öffnete die Tür.
Sein zu hoch, und auf einen Erwachsenen gezielter Schuß ging über den Kopf des kleinen Kindes hinweg, das dort lauerte. Erwachsene Agenten, die geschrumpft sind, durchfuhr es ihn, als er erneut zielte. Kann ich ein Kind töten? Aber es kehrt ohnehin in den Mutterschoß zurück; seine Zeit ist fast abgelaufen. Er legte auf die vier Kinder an, die vor dem Hotel
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