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Die Zeit: auf Gegenkurs

Die Zeit: auf Gegenkurs

Titel: Die Zeit: auf Gegenkurs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip K. Dick
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alle knien jetzt.« Die Menge jubelte weiter.
    »Heute nacht können wir also nichts mehr unternehmen«, sagte Sebastian zu dem Roboter. »Um in die Bibliothek einzudringen.«
    »Wir müssen warten, bis sie morgen früh wieder öffnet«, bestätigte der Roboter. Dann legte er einen Finger an die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen.
    Ray Roberts stand vor dem Mikrofon und musterte die Menge.
    Seine Heiligkeit war ein schmächtiger Mann, stellte Sebastian fest. Feingliedrig, mit schmalem Brustkorb, dünnen Armen – ungewöhnlich großen Händen. Seine Augen waren von auffallender Leuchtkraft; sie glitzerten hell, während er die Menge abschätzend musterte, vor der er sprechen würde. Roberts trug eine einfache dunkle Robe, ein Scheitelkäppchen und an der rechten Hand einen Ring. Einen Ring, sie alle zu beherrschen, dachte er in Erinnerung an Tolkien. Einen Ring, um sie zu finden. Einen Ring, um – wie hieß es doch gleich? – sie zu holen und in der Dunkelheit zu binden. Im Land Mordor, wo die Schatten wohnen. Der Ring irdischer Macht, dachte er. Wie jener aus dem Rheingold, der jeden, der ihn trägt, mit einem Fluch belegt. Vielleicht liegt es an dem Fluch, durchfuhr es ihn, daß der Anarch in der Gewalt der Bibliothek ist.
    »Sum tu«, sagte Ray Roberts und hob die Hände. »Ich bin ihr, und ihr seid ich. Unterschiede zwischen und unter uns sind Illusion. Wat hat’n dat zu bedeuten?, um es mit den Worten des alten schwarzen Hausmeisters in dem uralten Scherz zu sagen. Es bedeutet …« Er hob die Stimme, daß sie dröhnte und hallte; er sah nach oben, den Blick starr auf einen Punkt am Himmel über dem Dodger Stadion gerichtet. »Der Neger kann dem weißen Mann nicht unterlegen sein, weil er der weiße Mann ist. W enn der weiße Mann in früheren Zeiten dem Neger Gewalt antat, zerstörte er damit sich selbst. Wenn heute ein Bürger der Freien Negergemeinde einen Weißen verletzt und belästigt, dann verletzt und belästigt auch er sich selbst. Ich sage euch: Schlagt nicht das Ohr des römischen Legionärs ab; es wird von selbst abfallen, wie ein welkes Blatt.«
    Die Menge jubelte.
    Sebastian ging in die Küche und zündete einen Zigarettenstummel an, blies zornig Rauch hinein. Er wurde schnell länger. Vielleicht kann mir Bob Lindy helfen, heute nacht in die Bibliothek einzudringen, sagte er sich. Lindy ist einfallsreich; er kann alles erreichen, was sich mit mechanischen und elektrischen Mitteln erreichen läßt. Oder R. C. Buckley; mit seinem Gerede kommt er jederzeit überall hinein. Meine Leute, dachte er. Ich sollte mich auf sie verlassen, und nicht auf die Uditen. Auch wenn die Uditen einen Plan entwickelt haben, der morgen in die Tat umgesetzt werden kann.
    »Das erinnert mich«, protestierte Roberts im Wohnzimmer, »an die kleine alte Dame, die kürzlich altgeboren wurde und deren größte Angst es war, nicht korrekt angezogen zu sein, wenn man sie ausgrub.« Das Publikum kicherte. »Aber neurotische Ängste«, fuhr Roberts ernster fort, »können einen Menschen und eine Nation vernichten. Die neurotische Furcht Nazi-Deutschlands vor einem Zweifrontenkrieg …« Er redete weiter, aber Sebastian hörte nicht mehr hin.
    Vielleicht werde ich mich nach dem Plan des Roboters richten und bis morgen warten müssen, sagte er sich. Joe Tinbane hat sich den Weg in die Bibliothek freigeschossen, Lotta geholt und sich nach draußen geschossen, und was hat es ihm genutzt? Tinbane ist tot und Lotta ist wieder in der Bibliothek; nichts hat sich verändert.
    Der Bibliothek, erkannte er, muß man sich auf bestimmte Weise nähern – auf eine Weise, die den Bibliothekaren bekannt und vertraut ist. Die Uditen haben recht; die Bibliothek muß mich freiwillig hineinlassen. Aber wie kann ich verhindern, fragte er sich, daß ich Amok laufe, wenn ich dort bin? Wenn ich ihnen gegenüberstehe … die Anspannung wird unerträglich sein. Ungeheuer. Und ich werde dort sitzen und mit Appleford über ein verrücktes Pseudomanuskript schwatzen müssen …
    Er kehrte ins Wohnzimmer zurück. Über den Lärm von Ray Roberts’ Tirade hinweg schrie der dem Roboter zu: »Ich kann es nicht!«
    Verärgert hielt sich der Roboter die Ohren zu.
    »Ich gehe heute nacht in die Bibliothek«, schrie Sebastian, aber der Roboter beachtete ihn nicht; sein Kopf hatte sich wieder gedreht, und er trank wieder den Lärm aus dem Fernsehgerät.
    Giacometti stand auf, ergriff seinen Arm und führte ihn zurück in die Küche. »In diesem Fall haben die

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