Die Zeit der Feuerblüten: Roman (German Edition)
besser beherrschen als Ottfried! Dabei hatte sie immer viel schneller gelernt. Plötzlich erinnerte sie sich wieder an die Schule, wie viel Spaß es ihr gemacht hatte, zu schreiben und zu lesen. Und wie gut es sich angefühlt hatte, wenn der Lehrer sie lobte.
Sie und Karl.
Während der Freistunde am nächsten Tag ließen Jakob Lange und die Brandmanns Ida nicht aus den Augen. Sie fand trotzdem die Möglichkeit, erneut zu dem Rettungsboot zu gehen, auf dem sie am Tag zuvor Elsbeths Kleid ausgebreitet hatte. Sie beugte sich hinab, um das getrocknete Kleidungsstück an sich zu nehmen, und warf dabei einen verstohlenen Blick in die Richtung, in der sie Karl vermutete. Es war gut, er beobachtete sie.
Ida ließ schnell ihr Buch über Neuseeland unter das Ruder des Bootes gleiten. Karl würde es hier finden, sicher brannte er darauf, es zu lesen. Zu ihrer Überraschung ertastete sie an der Stelle bereits ein anderes Buch. Ohne zu überlegen, nahm sie es an sich und versteckte es in ihrer Rocktasche. Karl zwinkerte ihr zu, als die Glocke die Siedler wieder unter Deck rief und Ida an seinem Verschlag vorbeiging.
Später, in ihrer Koje, holte sie das Buch hervor, schlug es auf – und blickte erschrocken auf die Zeichnung eines dicken, beängstigend tätowierten Mannes. Es war ein Maori-Krieger. Sie hielt ein neues Buch über ihr neues Land in den Händen! Und dann fiel auch noch ein Stück Papier heraus. From Karl, for Ida, stand darauf. The first things to learn: …
Mit klopfendem Herzen flüsterte Ida immer wieder die ersten Übungssätze, die Karl ihr aufgeschrieben hatte: My name is Ida. I live in Nelson, New Zealand. Your name is Karl. You live in Nelson, New Zealand. Ida has a brother. His name is Franz. He lives in Nelson, New Zealand. Ida has a sister. Her name is Elsbeth. She lives in Nelson, New Zealand. Karl and Ida and her family live in Nelson, New Zealand.
Erst, als sie alles auswendig konnte, überlegte sie, dass es im letzten Satz eigentlich »Ottfried and Ida« heißen musste. Aber das war nicht der erste Satz in der neuen Sprache, den sie bilden wollte. Sie besann sich auf das, was sie am Tag zuvor schon gelernt hatte: Good night , Karl . Sie wollte noch ein I am glad to see you dazusetzen, ließ es jedoch, weil sie ihn schließlich nicht vor sich hatte. Doch tatsächlich sah sie Karl dann in ihren Träumen.
KAPITEL 7
Nach Wochen der Seefahrt erreichte die Sankt Pauli am 3. März Bahia, einen Landstrich in Brasilien. Der Ort, an dem sie anlegte, hieß Salvador – Erlöser, wie die Missionare den Siedlern beim Sonntagsgottesdienst berichteten. Die Stadt war zu Ehren Jesu Christi so genannt, was die Pastoren herausstellten. Ansonsten gaben sie den Auswanderern aber zu bedenken, dass es sich bei den Bewohnern des Landes um eingefleischte Papisten handle. Der Besuch einer Messe oder auch nur eines Gotteshauses sei also nicht möglich.
Viele Frauen klagten darüber, zumal es weitere Totenmessen zu lesen gab. Einige Zeit vor der Ankunft in Bahia war eine Krankheit ausgebrochen, die den Pocken zumindest ähnelte – so ganz sicher war der Arzt sich da nicht. Das damit verbundene Fieber hatte noch einmal drei Kleinkinder dahingerafft – Ida dankte dem Himmel, dass es bei Franz glimpflich verlaufen war. Jetzt wünschte sie sich nichts sehnlicher, als einmal wieder festen Boden unter den Füßen zu haben und der drangvollen Enge auf dem Zwischendeck entfliehen zu können.
Tatsächlich wurde der Landausflug dann zu mehr als nur einem erleichternden Zwischenspiel. Nein, für Ida glich der erste Blick auf Salvador de Bahia eher einer Offenbarung! Der Ort kam ihrer Vorstellung vom Paradies so nahe, wie es nur möglich war. Fasziniert starrte die junge Frau auf breite, helle Sandstrände, gesäumt von grünen Wäldern, und bunte, verspielt wirkende Häuser in so gleißendem, warmem Sonnenlicht, wie sie es nie für möglich gehalten hatte. Schon im Hafen wurden frische Früchte feilgehalten, deren Namen Ida nicht kannte, bei deren Anblick ihr aber das Wasser im Munde zusammenlief. Nach wochenlanger einseitiger Ernährung würde es sich wie der Himmel anfühlen, süßes Fruchtfleisch im Munde zergehen zu lassen.
Leider gab Beit den Siedlern vorerst keine Erlaubnis, das Schiff zu verlassen. Salvador sei nicht sicher, erklärte er den Auswanderern, sie würden zweifellos unter Räuber und Mörder fallen, wenn sie hier auf eigene Faust herumstreiften. Lange, Brandmann und andere liefen Sturm. Natürlich
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