Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Da würden wir wenigstens was zu essen bekommen. Wir fuhren mit der Straßenbahn ins Zentrum. Im Bahnhof schlugen wir uns den Bauch voll und alberten in einer Fotokabine herum. Den Fotostreifen habe ich heute noch. Ines mit ihrem blonden Pagenkopf, ein T-Shirt an mit irgendeinem Gesicht drauf, an der rechten Hand drei silberne Ringe. Lea mit einem fetten Grinsen, ich mit glänzender Bluse, Lederjacke und einer ziemlich lädierten Frisur. Alle völlig übernächtigt, aber glücklich. Nach all den Jahren sind die Farben etwas verblasst, doch die Freude, die Lebendigkeit, die uns aus allen Knopflöchern quoll, ist bis heute spürbar.
Zum Nachmittag wurde die Frage, wo wir eigentlich hin sollten, immer drängender. Wir brauchten ein Quartier für die Nacht, keine von uns wollte nach Hause, keine von uns kam auf die Idee, zur Polizei zu gehen. Für uns war das einfach ausgeblendet, es war ja vorbei. Wir überlegten hin und her und fanden keine Lösung. Ich war es, die am Ende den Vorschlag machte, dass wir nach Grünau fahren könnten. Zu Thorsten, den ich seit Wochen nicht gesehen hatte, der mich behandelt hatte wie den letzten Dreck und wegen dem ich mich hatte umbringen wollen. Auch ausgeblendet, weggeschoben.
Die Türen der Straßenbahn hatten sich gerade hinter uns geschlossen, als wir ein Hupen und Schreien hörten. Durch die Scheibe konnten wir sehen, dass Rainer wild gestikulierend mit dem Auto neben der Bahn herfuhr.
Scheiße, wo kommt der denn jetzt her?
Im Wagen saßen noch zwei andere Männer, die ich nicht erkennen konnte. Wie betäubt hockten wir uns hin. Einen Moment lang sagte keine ein Wort. Dann redeten alle durcheinander.
»Wenn die uns kriegen, sind wir erledigt!«
»Der bringt uns um!«
»Die kriegen uns, bei der nächsten Station kriegen die uns!«
Das Gefühl des Ausgeliefertseins, diese absolute Hilflosigkeit, dazu die Unfähigkeit, einen klaren Gedanken zu fassen, begleitet mich noch heute. Nackte Angst.
Erst als Lea hysterisch anfing zu schreien und uns alle Leute in der Bahn anglotzten, wurde ich etwas ruhiger. »Hör auf, hör auf! Die kriegen uns nicht!« Ein netter Versuch, mehr nicht, ein Pfeifen im dunklen Wald.
Tatsächlich mussten unsere Verfolger fürs Erste abreißen lassen.
In Grünau hetzten wir zwischen den Wohnblöcken durch, als wäre der Teufel hinter uns her. Keine wagte es, sich umzusehen. Was ich nicht sehe, ist nicht da.
Ich klingelte Sturm. Nichts rührte sich, kein Summer ging an. Scheiße. Denk nach! Um diese Uhrzeit konnte Thorsten eigentlich nur im Flex sein.
Die Kneipe war in einem Flachbau untergebracht, mitten in der Plattenbausiedlung. Wir drückten uns an den Hauswänden entlang, machten sogar noch einen Umweg, immer in der Angst, Rainers Wagen würde gleich um die Ecke biegen.
Gott sei Dank, er ist da! Durch die Scheibe sah ich ihn am Ausschank stehen. Ich riss die Tür auf und stürzte auf ihn zu. Vergessen die Demütigung, vergessen die Psychiatrie, ich war nur noch froh, ihn zu sehen.
»Hey, was machst du denn hier? Lange nicht gesehen!«
Die Sätze sprudelten wirr aus mir heraus. Ob er uns helfen könne, wir seien in Schwierigkeiten, nur ein paar Tage ein Dach über dem Kopf, nicht lange, versprochen.
Er musterte uns mit reglosem Gesicht, stellte ruhig ein Bier auf den Tresen, wischte über den Zapfhahn und sagte: »Kein Problem, Ladys, mach ich doch gerne.«
Wir sollten nebenan im Billardraum warten, bis er mit der Arbeit fertig sei. »Damit ihr mich hier nicht von der Arbeit abhaltet …«
Erleichtert zogen wir ab. In Sicherheit, war ja doch kein schlechter Kerl, der Thorsten.
Auf dem Weg in den Nebenraum sah ich einen Mann sitzen, den ich aus der Glaubensgemeinde meiner Mutter kannte. Er musterte mich und sagte: »Na, warst ja schon länger nicht mehr bei uns. Hast jetzt wohl andere Interessen, hm?«
Ich zögerte, einfach so an ihm vorbeizugehen, ohne etwas zu sagen.
Wie geht es meiner Mutter? Ist alles gut daheim? Was macht sie? Kommt sie noch regelmäßig? Und dann? Wie sieht das denn aus! Ach so, hatte ich ganz vergessen, dass du abgehauen bist. Hat deine Mutter ja gesagt, dass sie dich nicht mehr unter Kontrolle hat. Ich weiß wirklich nicht, was ich mit dem Kind noch machen soll. Immer kontra, immer diese Probleme. Mach den Mund auf! Sag ihm, was passiert ist. Vor Gott sind alle Menschen gleich. Nein, ER wird dich richten.
Wie in einem Film sah ich, wie ich mich an seinen Tisch setzte.
»… Männer kommen, und wir können nicht
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