Die Zeit, die Zeit (German Edition)
Kamerastandort von damals herauszufinden. Sie hatten die Leica auf das Stativ montiert und versuchten, das Bild im Sucher mit dem auf dem alten Foto in Übereinstimmung zu bringen.
Der Vorgang war mindestens so kniffelig wie die Arbeit in der Camera obscura. Wenn die Fixpunkte am linken Bildrand stimmten, waren sie am rechten nicht richtig; wenn es unten aufging, war es oben verrutscht.
Sie hatten auf der Höhe des Stammes auf beiden Seiten des Buschs einen Fluchtstab aufgestellt, um für die Rekonstruktion einen Maßstab zu erhalten, und schossen Dutzende von Fotos.
Peter Taler lud die Ausbeute auf den Computer und sortierte die besten aus. Diese überlagerte er in Bernoullis Programm mit dem digitalisierten alten Bild, bis sie eines gefunden hatten, das genau passte. Auf diese Weise gingen sie auch mit den Fotos aus den anderen Himmelsrichtungen vor.
Es dämmerte schon, als sie endlich genau wussten, welche Form und Größe die Eibe damals besaß. Und ihnen bewusst wurde, wie viel Arbeit noch auf sie wartete.
Martha hatte an jenem Tag, als ihr Mann die Kamera testete, im Garten gearbeitet. Meistens winkte sie oder lachte ins Objektiv. Aber hie und da war sie im Bild, ohne auf die Kamera zu achten. Dann war ihr Gesicht von einer eigenartigen Entrücktheit, die so gar nicht zu ihren Faxen auf den anderen Bildern passte.
Knupp sprach mit nachsichtiger Zärtlichkeit von ihr, als hätte Peter sie auch gekannt. Und je länger dieser um ihre Fotos herum war, desto mehr kam es ihm vor, als sei sie eine alte, vorübergehend abwesende Bekannte.
Marthas Gegenwart machte auch Laura immer präsenter. Er hatte geglaubt, die Beschäftigung mit Knupps surrealem Projekt, die ihm kaum mehr Zeit ließ für die Rituale – das Spaghetti-Kochen, Amy-Winehouse-Hören oder Marlboro-Abbrennen –, würde ihn von Laura ablenken. Aber das Gegenteil war der Fall. Sie war ihm näher als zuvor.
Er ertappte sich wieder öfter dabei, dass er dachte: Das muss ich Laura erzählen, oder: Was wohl Laura dazu meint. Und wenn er sehr in eine Sache vertieft war, geschah es, dass er wieder dieses wohlige Gefühl verspürte, sie in der Nähe zu wissen.
Doch die Leere, in die er fiel, wenn er in der Wirklichkeit erwachte, war nicht mehr so bodenlos wie früher. Er musste sich eingestehen, dass Knupps unerschütterlicher Glaube an das Wiedersehen mit seiner Martha auch bei ihm zu wirken begann. Die Trennung von Laura fühlte sich für Peter nicht mehr so endgültig an.
André Zeier, sein früherer Nachbar, der Laura damals gefunden hatte, wollte ihn nicht in seiner neuen Wohnung empfangen. Peter Taler nahm an, dass dies etwas mit dem Geheimnis zu tun hatte, das ihm Frau Gelphart anvertraut hatte: Herr Zeier sei mit einem Mann zusammengezogen.
Sie trafen sich in einem Café in Bahnhofsnähe. Taler war etwas zu früh da. Er setzte sich in eine mit Nussbaumholz getäfelte Nische und bestellte einen Pfefferminztee. Es waren nur wenige Tische besetzt. Zwischen den mit Zimmerpflanzen geschmückten Raumtrennungen saßen zwei Schülerinnen, die gemeinsam Hausaufgaben machten, ein Mann mit einer Gratiszeitung und zwei Mütter mit Kinderwagen.
Zeier kam mit fünf Minuten Verspätung und entschuldigte sich, als wären es fünfzig. Er war ein kleiner, rundlicher Mann Ende vierzig. Das schüttere hellblonde Haar von damals hatte er wegrasiert, und er trug jetzt einen kleinen Schnurrbart. Aber er war immer noch der höfliche, zurückhaltende Mann, den Taler in Erinnerung hatte.
»Wie geht es Ihnen?«, erkundigte er sich, sobald er sich gesetzt hatte.
Die Frage war keine Floskel, deshalb beantwortete Taler sie aufrichtig: »Besser. In letzter Zeit etwas besser, danke.« Erst jetzt, wo er es aussprach, wurde es ihm bewusst: Es ging ihm tatsächlich besser.
Zeier bestellte einen Kaffee, und bis er kam, unterhielten sie sich über das Haus, die neuen Mieter, die Liberalisierung der Waschküchenordnung und Frau Gelphart, die auch Putzfrau bei Zeier gewesen war. Von ihr wusste er bereits, dass Taler sich mit Knupp angefreundet hatte.
»Er ist ein überraschend interessanter Mensch«, sagte Taler, »und wir sind in einer ähnlichen Situation.«
»Wenn auch mit vielen Jahren Abstand«, ergänzte Zeier.
»Es geht nicht weg.«
»Natürlich nicht. Entschuldigen Sie.«
Taler zeigte ihm die Fotos des Mopedfahrers. Zeier hatte ihn noch nie gesehen. »Sie glauben, er hat etwas damit zu tun?«
»Haben Sie von dem anderen Fall gelesen, letzten Monat?«
Zeier
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