Die Zeit ist nahe: Kommissar Kilians dritter Fall
uns ja einig«, gab Mala Dingkor zu. »Ich sehe nichts anderes bei dir oder bei Giuliano. Eure Trumpfkarte sind die niedergeknüppelten Arbeiter, die gegen das internationale Kapital aufbegehrt haben und schließlich daran zerbrochen sind.«
»Mala, hör auf mit dem sozialistischen Geschwätz. Daran glaubst du doch selbst nicht mehr. Lasst uns endlich zum Grund meiner Einladung kommen«, würgte Armbruster jede weitere Diskussion ab.
»Mach es nicht so spannend«, griff Benedetti den Faden auf.
»Hast du etwas über Esperanza herausbekommen? Wie wir ihn kaltstellen können? Er könnte uns gefährlich werden. Wie ich in Erfahrung bringen konnte, haben sich die Deutschen und die Polen auf seine Seite geschlagen.«
»Esperanza ist im Moment nicht das Problem. Ich habe geeignete Maßnahmen getroffen. Viel schlimmer ist …«
Armbruster brach ab und schaute den beiden misstrauisch in die Augen, darauf wartend, wer sich mit seiner Reaktion verraten würde. »Der Papyrus von Whitby ist wieder aufgetaucht.«
Benedetti zuckte zusammen, aber Mala Dingkor blieb ruhig, nahezu unbeteiligt, als wäre er ahnungslos. »Whitby? Papyrus? Was hat es damit auf sich?«
»Mala, es ist ohnehin unerträglich, dich und deine ungepflegte Erscheinung auf Dauer zu ertragen, aber wenn jetzt auch noch Dummheit dazukommt, werde ich dich in meiner Funktion als nächster Papst in den Laienstand zurückversetzen«, schimpfte Armbruster.
In Benedettis Augen hingegen spiegelte sich Aufregung, die er jedoch sofort wieder unter Kontrolle brachte. »Wann, wo und wie?«
»Vor zwei Tagen, in einer Stadt in Deutschland. Würzburg. Bei den Abrissarbeiten eines Hauses kam eine unterirdische Grablege zutage, die aus dem achten, vielleicht siebten Jahrhundert stammt.«
»Das käme zeitlich hin. Nicht mehr als hundert Jahre«, grübelte Benedetti. »Und wer hat ihn?«
»Giuliano, mein lieber Freund, wenn ich dich nicht so gut kennen würde, würde ich dir dieses Theater abnehmen«, antwortete Armbruster.
»Was meinst du? Ich bin, was selten vorkommt, und ich gebe es nicht ohne Neid zu, ahnungslos. Es werden Köpfe rollen, das ist sicher. Niemand hat mich informiert.«
Armbruster hörte auf jedes Wort, das Benedetti sprach. Jede Silbe und jede einzelne Betonung waren der Schlüssel zu Benedettis Aufrichtigkeit. In diesem Fall glaubte er ihm. Aus der anfänglichen Überraschung war Wut und Verärgerung geworden, die sich im Glanz seiner Augen und im aufgeregten Zucken eines Wangenmuskels äußerten. Er hatte diese Nervosität bei Benedetti bereits früher bemerkt und wusste von daher, wie er bei ihm Lüge von Wahrheit trennen konnte.
»Würde mich bitte schön jemand aufklären?«, protestierte Mala, der gebannt den Ausführungen der beiden folgte.
Armbruster erbarmte sich. »Im Jahre 664 ist anlässlich einer Synode in Whitby, das früher Streneashalch genannt wurde und an der Ostküste Englands liegt, ein Papyrus aufgetaucht, der die damalige Kirchengemeinde zu großer Sorge veranlasste. Auf dem Treffen ging es vordergründig um die Frage nach der korrekten Berechnung des Osterfestes. Letztlich lief die Sache darauf hinaus, die vorherrschende iroschottische Kirche, die man auch die culdeische nennt, zu vernichten. Sie, die Culdeer, hatten zuvor von Irland aus Schottland, das heutige England, Gallien und später auch das Frankenreich christianisiert und befanden sich im offenen Streit mit dem römischen Stuhl, den sie genauso wenig anerkannten wie das Primat des Papstes. Alle vorigen Versuche, die Culdeer Rom zu unterwerfen, waren, wie im Falle des Augustinus, gescheitert.«
»Was hat denn der damit zu tun?«, unterbrach Mala Dingkor.
»Papst Gregor der Große hatte Augustinus im Jahre 596 mit ebenjenem Auftrag nach England geschickt. Nur, der eifrige Augustinus war nicht der Mutigste und Geschickteste, wie es Beda eindrucksvoll schildert. Kaum gelandet, taufte er zwar König Ethelbert und ließ sich zum Bischof von Canterbury ernennen und damit zum ersten römischen Metropoliten in Britannien, aber bei dem anschließend stattfindenden Treffen, zu dem er die Culdeer aus Wessex rief, kam es zum Eklat. Er hatte sie mit dem Versprechen gelockt, dass deren allgemein bestehende Priesterehe ungestört fortbestehen könne. Er ermahnte sie dennoch ›brüderlich‹, dass sie den Frieden der katholischen Kirche nicht länger stören, sich seinem Supremat unterwerfen und die eigentümliche Osterberechnung aufgeben sollten. Die culdeischen Äbte und
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