Die Zeit-Odyssee
ihnen sprechen zu
können, aber das wollten die Mongolen nicht gestatten.
Er war höchst aufgeregt angesichts der Stadt, des
neuzeitlichsten Ortes, auf den sie bisher gestoßen waren.
Bestimmt existierte hier eine gewisse Grundlage im Hinblick auf
Wissen und Material, auf der man aufbauen könnte… Er
bedrängte Yeh-lü, einen friedlichen Kontakt mit den
Stadtbewohnern herzustellen, aber seine Bitten verhallten
ungehört, und er begann sich Sorgen zu machen: Die Mongolen
mochten Städte nicht und kannten nur eine Art, mit ihnen
umzugehen. Sable wollte ihn nicht unterstützen; sie sah zu
und wartete ab und spielte ihr eigenes krauses Spiel.
Einiges von dem, was folgte, musste Kolja hautnah
miterleben.
Die Mongolen kamen in der Nacht, ritten lautlos in die kleine
Stadt. Als sie zum Angriff übergingen, widerhallten die
Straßen von ihrem Gebrüll und dem Klappern der
Pferdehufe. Das große Töten begann auf der
Hauptstraße und wogte durch die ganze Stadt – eine
riesige Welle grauenhafter Metzeleien mit blutigem Schaum an
ihrem Kamm. Wenn man von einigen wenigen aufs Geratewohl
abgegebenen Schüssen aus antiquierten Feuerwaffen absah,
hatten die Bewohner der Stadt keine Möglichkeit, Widerstand
zu leisten.
Dschingis hatte angeordnet, den obersten Herrn der Stadt
lebendig zu ihm zu bringen. Der Bürgermeister versuchte,
sich und seine Familie in der Stadtbibliothek zu verstecken, aber
die Mongolen nahmen das kleine Gebäude Stein für Stein
auseinander und fanden sie. Die Frau des Bürgermeisters
wurde vor seinen Augen getötet, seine Töchter wurden
vergewaltigt und er selbst zu Tode getrampelt.
Die Mongolen fanden in der Stadt kaum etwas, das für sie
von Wert war. Sie zertrümmerten die kleine Druckerpresse
hinter der Zeitungsredaktion und sammelten das Metall ein, um es
einzuschmelzen und weiterzuverwenden. Normalerweise hatten sie
die Gewohnheit, Kunsthandwerker und Männer, deren
Fachkenntnisse ihnen später gelegen kommen konnten, zu
verschonen, wenn sie Städte überrannten. Doch in
Bischkek konnten sie mit dem, was sich ihnen in dieser Hinsicht
bot, nicht viel anfangen: Das Wissen eines Uhrmachers, eines
Rechtsanwaltes oder eines Buchhalters hatte keine Bedeutung
für sie. Und so wurden nur wenige Männer am Leben
gelassen. Die meisten Kinder und einige der jüngeren Frauen
wurden gefangen genommen, viele der Frauen vergewaltigt. Das
Ganze wurde mechanisch erledigt, lustlos und gleichgültig,
selbst die Vergewaltigungen. Es war eben alles eine
Pflichtübung – Teil dessen, was getan werden musste,
wenn man dem Volk der Mongolen angehörte.
Als sie mit alldem fertig waren, steckten sie die Stadt
systematisch in Brand.
Die überlebenden Gefangenen wurden über das offene
Land zu Dschingis Khans Lager getrieben, wo sie sich in ihrem
Elend und ihrer Verzweiflung aneinander drängten. Kolja
blickte in typische Bauerngesichter. Doch die Mongolen konnten
sich nicht satt sehen an den Hosen und Wämsern, den langen
weiten Röcken und Kopftüchern ihrer Gefangenen. Eine
junge Schönheit mit Namen Natascha, die
fünfzehnjährige Tochter eines Gastwirtes, wurde
für den Khan persönlich ausgewählt. Er
beanspruchte stets die schönsten Frauen für sich selbst
und schwängerte viele von ihnen.
Dschingis hatte geplant, die Gefangenen mitzunehmen, denn es
ergab sich immer irgendeine Nutzung für solch arme Teufel
– man konnte sie in der Schlacht als lebende Schilde vor
sich hertreiben, zum Beispiel. Aber als er herausfand, dass ein
Mitglied der Goldenen Familie von der Kugel eines vor Angst
zitternden Advokaten verwundet worden war, befahl er,
sämtliche Gefangenen zu töten. Yeh-lüs Bitten um
Milde waren in den Wind gesprochen. Die Frauen und Kinder mussten
sich in ihr Schicksal fügen.
Als die Armee schließlich weiterzog, war die Stadt
nichts als ein rauchendes Ruinenfeld; von den Gebäuden
existierten nur noch die Grundmauern. Außerdem ließen
die Mongolen einen riesigen Berg abgeschlagener Köpfe
auftürmen, manche davon so klein, dass es Kolja fast das
Herz brach. Und nach einigen Tagen schickte der Khan seine
Nachhut zurück in die Stadt; dort war eine Hand voll
Einwohner dem Gemetzel entgangen und hielt sich in Kellern
versteckt. Die Mongolen stöberten sie auf, trieben sie
zusammen und hauten sie in Stücke, nachdem sie sich vorher
noch an ihnen vergnügt hatten.
Sable zeigte keinerlei Reaktion auf all diese Geschehnisse,
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