Die Zeit-Odyssee
keinerlei Emotionen. Doch was Kolja anging, so war ihm nach
Bischkek klar, was er tun musste.
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BABYLON
Das Durchsegeln des Golfs dauerte zwei Monate, und nach der
Ankunft war Alexander bestrebt, möglichst rasch ins
Landesinnere zu kommen. Er formierte einen Voraustrupp von
tausend Mann, begleitet von Eumenes, Hephaistion und anderen.
Bisesa und ihre Gruppe stellten sicher, sich dem Trupp
anschließen zu können.
Schon einen Tag nachdem sie von Bord gegangen waren, machte
sich die Truppe auf den Weg nach Susa, zu Alexanders Zeit das
Verwaltungszentrum seines eroberten persischen Reiches. Alexander
selbst war noch zu schwach für längere Märsche
oder Ritte, und so fuhr er auf einem mit purpurnen Planen
gedeckten Wagen, begleitet von hundert Schildträgern, die im
Gleichschritt daneben hermarschierten. Sie erreichten Susa ohne
Zwischenfälle – aber es war nicht das Susa, das
Alexander kannte.
Seine Landvermesser hatten keinen Zweifel, dass es sich um die
richtige Stelle handelte, im Herzen einer spärlich mit
Grün bewachsenen Ebene. Doch es gab keine Spur der Stadt,
nicht die geringste. Sie hätten ebenso gut die ersten
Menschen sein können, die den Fuß darauf setzten
– und das waren sie vermutlich auch, dachte Bisesa.
Eumenes gesellte sich zu der neuzeitlichen Personengruppe und
machte ein grimmiges Gesicht. »Ich befand mich erst vor
einigen Jahren hier. Dies war ein wohlhabender Ort. Jede Provinz
des Reiches trug zu seiner Herrlichkeit bei, von den Fertigern
der hölzernen Säulen aus Indien bis zu Handwerkern und
Silberschmieden aus den griechischen Küstenstädten. Die
Schätze der Stadt waren außerordentlich. Und
nun…« Er schien von seinen Gefühlen
übermannt, und Bisesa ahnte wiederum diesen hilflosen Zorn,
dessen stetes Anwachsen sie die ganze Zeit über beobachtet
hatte – dieser hochintelligente Grieche betrachtete die
Diskontinuität offenbar als persönlichen Affront!
Alexander stieg vom Wagen, irrte eine Weile auf und ab,
starrte auf den Boden und trat nach herumliegenden Erdklumpen.
Dann zog er sich wieder in seinen Planwagen zurück und
weigerte sich angeekelt, noch einmal in Erscheinung zu
treten.
Das Nachtlager wurde in der Nähe jenes Geländes
aufgeschlagen, auf dem sich Susa hätte befinden sollen, und
am nächsten Tag setzte sich die Truppe, geführt von
Alexanders Kartografen, über eine weite, einsame Ebene
Richtung Westen und Babylon in Marsch. Durch das rätselhafte
Verschwinden von Susa schienen die Leute zutiefst bedrückt,
so als würde das unendliche Gewicht der Zeit auf ihren
Schultern lasten. Manchmal ertappte Bisesa den einen oder anderen
Mazedonier dabei, wie er sie anstarrte, und sie ahnte, was ihm
durch den Kopf ging: dass hier vor ihm eine Frau stand, die erst
das Licht dieser Welt erblicken würde, nachdem alle
Menschen, die er kannte, und alles, was diese Menschen je
berührt hatten, zu Staub zerfallen waren. Sie war ein
lebendes Symbol für die Diskontinuität.
Zur allgemeinen Erleichterung stießen sie nach einem
nicht allzu langen Marsch auf einen Riss in der Zeit, wo der
Boden abrupt einige Zentimeter absank und eine Straße zum
Vorschein kam. Eine grob angelegte Straße aus roh
zubehauenen Steinblöcken, aber unzweifelhaft eine
Straße – genau genommen, so hörten sie von
Eumenes, ein Abschnitt jener Königsstraße, die sich
einst durch ganz Persien erstreckt hatte und die Alexander
äußerst gelegen gekommen war, als er sich an die
Eroberung des persischen Reiches gemacht hatte.
Doch selbst auf dieser Straße dauerte der Marsch einige
Tage. Das Land rundum war staubtrocken und nur von gelegentlichem
Gestrüpp bewachsen. Aber hier und dort fanden sich
Geröllhaufen unbekannten Ursprungs und lange, völlig
geradlinige Gräben – offensichtlich von Menschenhand
hergestellt, aber lang schon verlassen und ihr Zweck
vergessen.
Jeden Abend, wenn der Marsch unterbrochen und das Lager
aufgeschlagen wurde, stellte Casey sein Funkgerät auf,
lauschte und wartete auf ein Lebenszeichen der Sojus-Besatzung,
deren Spur sich irgendwo in den unbekannten Weiten Asiens
verloren hatte. Casey hielt sich stets an den festen Zeitpunkt,
der mit der Sojus ausgemacht war, aber seit dem Tag ihres
versuchten Wiedereintritts in die Erdatmosphäre hatte er
nichts mehr von der Besatzung vernommen. Casey hörte auch
weiterhin das Signal ab, das nach wie vor von dem unbekannten
Funkfeuer
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