Die Zeit-Odyssee
den Steinen umher, und Fliegenschwärme stiegen auf
und belästigten die Pferde. Überrascht vernahm Kolja
die trostlosen Schreie von Seevögeln – es konnte wohl
kaum einen Ort auf der Welt geben, der weiter vom Meer entfernt
war als dieses ausgedörrte Land inmitten des Kontinents!
Aber vielleicht waren die Vögel dem komplizierten Netzwerk
von Asiens Flüssen gefolgt und bis hierher geirrt. Der
Vergleich zu seiner eigenen Situation drängte sich Kolja
auf; die Ironie erschien ihm geradezu banal.
Und immer weiter ging die Reise.
Um die spätere Mongolei zu verlassen, würden sie das
Altaigebirge überqueren müssen. Tag für Tag ging
es bergan, und die Gegend wurde fruchtbarer und wasserreicher. An
manchen Stellen gab es sogar Blumen: Einmal fand Kolja Primeln,
Anemonen und Orchideen, gestrandet auf einem sterbenden Fragment
des Steppenfrühlings. Das Heer überquerte eine weite
Sumpfebene, wo Regenpfeifer über das glitschige Gras
flitzten und die Pferde ihre Hufe vorsichtig in den Matsch
setzten, der ihnen bis an die Knöchel reichte.
Dann wurde das Gelände bergig. Die Armee quetschte sich
durch Täler, die immer enger und deren Hänge immer
steiler wurden. Wenn die Mongolen einander etwas zuschrien,
wurden ihre Stimmen von den Wänden zurückgeworfen.
Manchmal sah Kolja hoch oben Adler, deren unverwechselbare
Silhouetten sich gegen den bleigrauen Himmel abzeichneten. Die
Generäle des Khans murrten düster über die
Anfälligkeit des Heeres in diesen schmalen Fallen, was
mögliche Hinterhalte betraf.
Schließlich öffnete sich das Land in eine riesige
Schlucht, deren senkrechte Wände aus geborstenem Felsgestein
bis in den Himmel aufzuragen schienen. Das Ende dieser Schlucht
wurde von einem Höhenzug markiert, über dem sich ein
von Schnee und Eis gesprenkelter mächtiger Tafelberg erhob
wie ein von den Exkrementen riesenhafter Vögel beschmutztes
Dach. Kolja drehte sich um und sah die sich über die ganze
Länge der Schlucht hinziehende Armee des Dschingis Khan,
Menschen und Tiere schlammfarben und dazwischen das Glitzern
polierter Waffen. Aber diese dünne Kolonne von Kriegern
wirkte kümmerlich und winzig klein im Schatten der
gewaltigen purpurroten Gipfel rundum.
Der Heerzug folgte der nordwestlichen Grenze des modernen
China und wandte sich südwestwärts Richtung Kirgistan.
Und dann waren es nur noch ein paar Tagesritte bis zur Stadt.
Die Mongolen, die außerordentlich viel vom geheimen
Sammeln von Vorausinformationen hielten, sandten Späher und
Spione aus, die sich erst einmal unauffällig in der Stadt
umsahen, und nach deren Rückkehr Botschafter, die kühn
durch die Hauptstraßen schritten. Bürger in
hochgeschlossenen Jacken und mit flachen Hüten marschierten
auf sie zu und streckten diesen übel riechenden Fremden die
Hände in Freundschaft entgegen.
Es war offensichtlich ein Ort aus der Moderne –
wenigstens annähernd. Diese Nachricht schien Kolja abrupt
aus der Trance zu wecken, in die ihn die Reise versetzt hatte.
Und es war ein Schock für ihn, als er hörte, dass die
Armee – und er zusammen mit ihr – nahezu drei Monate
unterwegs gewesen war.
Es sollte sich erweisen, dass hier der letzte Teil seines
Weges sein würde.
Sable wurde dazu bestimmt, die Abgesandten zu begleiten und
mitzuhelfen bei der genaueren Erforschung der Stadt. Es musste
sich um Bischkek handeln, sagte sie sich, im einundzwanzigsten
Jahrhundert die Hauptstadt von Kirgistan, aber so, wie sie sie
jetzt vorfanden, befand sie sich in einer vor-elektrifizierten
Ära. Es gab jedoch Wassermühlen und Fabriken.
»Könnte spätes neunzehntes Jahrhundert
sein«, berichtete sie. Schotterstraßen führten
in die Stadt, aber sie wurden etwa einen Kilometer
außerhalb abrupt von Zeitrissen gekappt.
Weitere Kundschafter wurden ausgesandt, denen Kolja als
Dolmetscher mitgegeben wurde. Es war eine hübsche Stadt mit
vielen Bäumen in den Straßen, die jedoch unter dem
sauren Dauerregen gelitten hatten. Offenbar als später
Abglanz ihres geschichtlichen Hintergrundes hieß die
Hauptverkehrsader »Seidenstraßenallee«. Die
Stadtbewohner, abgeschnitten von ihrer Umgebung und ohne die
geringste Ahnung, was sich auf der Welt zugetragen hatte, waren
erstaunt über das Fernbleiben der Steuereintreiber, und
wollten wissen, ob es irgendwelche Anweisungen aus Moskau gab,
irgendwelche Nachrichten vom Zaren. Kolja wünschte sich
inständig, unbeaufsichtigt mit
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