Die Zeit-Odyssee
gehen wir
jetzt?«, japste Ruddy.
»Zum Tempel des Marduk!«, antwortete Bisesa.
Der Tempel, ein weiterer großartiger
pyramidenförmiger Bau, wirkte wie eine Kreuzung zwischen
einer Kathedrale und einem Bürogebäude. Es ging im
Eilschritt durch Korridore und Treppen, von Ebene zu Ebene und
durch eine verwirrende Ansammlung von Räumen, jeder davon
kunstvoll geschmückt und ausgestattet mit Altären,
Statuen, Friesen und obskuren Objekten wie Krummstäben,
reich verzierten Messern, diversem Kopfschmuck,
Musikinstrumenten, die Lauten oder Harfen ähnelten, ja
selbst kleine Karren und Streitwagen standen da. Einige der
inneren Räume waren fensterlos, und das Licht stammte von
Öllampen, die rußend in kleinen Mauernischen brannten.
Ein starker Geruch nach Weihrauch lag über allem, und es gab
Hinweise auf kleinere Schäden: eine Tür, die aus den
schweren hölzernen Angeln gerissen war, zerbrochene
Gefäße, ein herabhängender Wandteppich.
Ruddy sagte: »Eines ist sicher, hier wurde mehr als nur
ein Gott verehrt. Das ist eine wahre Galerie von
Kultstätten! Hoch lebe die Buntheit der
Vielgötterei!«
»Ich kann vor lauter Gold die Götter nicht
erkennen«, murmelte de Morgan. »Seht nur! Es
ist überall!«
»Ich war einmal im Vatikan«, bemerkte Bisesa,
»und dort war alles genauso – Pracht und
Überfülle auf jedem Fleckchen, sodass man kaum
Einzelheiten erkennen konnte.«
»Ja«, sagte Ruddy, »und die Wurzeln sind die
gleichen: die eigenartige Macht, die die Religion über den
Geist des Menschen ausübt – und die Anhäufung
gewaltiger Reichtümer durch ein antikes Imperium.«
Doch es gab auch Spuren von Plünderungen: die
zertrümmerten Türen, einige leere Sockel, auf denen
Kostbarkeiten gestanden haben mochten. Aber irgendwie hatte es
den Anschein, als wären die Plünderer nur mit halbem
Herzen bei der Sache gewesen.
Der Kultraum des Marduk selbst befand sich an der
höchsten Stelle des Komplexes. Aber er war zerstört,
und die Besucher standen entsetzt an der Schwelle der Kammer.
Später erfuhr Bisesa, dass die große Statue des
Marduk, die einst hier gestanden hatte, zwanzig Tonnen gewogen
hatte und aus purem Gold gewesen war. Doch das letzte Mal, als
Eumenes sich hier aufgehalten hatte, war sie nicht mehr da
gewesen, denn schon Jahrhunderte vor Alexanders Eintreffen hatte
der Eroberer Xerxes die Gebäude geplündert und die
große Goldstatue mitgenommen.
Nun, jetzt hatte sich die Statue hier befunden –
aber sie war zerstört, eingeschmolzen zu einer riesigen
Pfütze aus glänzendem Metall und Schlacke auf dem
Boden. Die Wände bestanden nur noch aus nackten Lehmziegeln
und waren versengt von intensiver Hitze. Bisesa bemerkte Asche
und verbrannte Stoffreste auf dem Boden – Fragmente von
Teppichen oder Wandbehängen. Nur die Basis der Statue war
noch erhalten, ihre Kanten weich gerundet, und sie ließ die
Umrisse zweier mächtiger Füße erahnen.
Und im Zentrum des ausgebrannten Heiligtums hing frei, perfekt
und geheimnisvoll ein Auge – ein riesiges Auge, viel
größer als alle anderen, die sie je gesehen hatten,
sicher an die drei Meter im Durchmesser.
Josh stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Abdi,
um dieses hier einzutunken, braucht man aber einen gewaltigen
Eimer!«
Bisesa ging auf das Auge zu, und in dem flackernden Licht der
Öllampen konnte sie zusehen, wie ihr eigenes verzerrtes
Spiegelbild immer größer wurde, so als würde die
andere Bisesa, die wie ein Goldfisch im Glas gefangen war, durch
das Wasser auf sie zuschwimmen, um sie aus der Nähe zu
betrachten. Sie spürte keine Hitze, keine Spur der wilden
Energien, die in dem Raum gewütet haben mussten. Sie hob die
Hand und hielt sie dicht an das Auge; es fühlte sich an, als
würde sie gegen eine unsichtbare elastische Barriere
drücken, und je stärker sie drückte, desto fester
wurde der Gegendruck, und dazu verspürte sie einen leichten
seitlichen Zug.
Josh und Abdikadir verfolgten ihr Tun ein wenig besorgt, und
schließlich trat Josh neben sie. »Gibt Ihnen etwas zu
denken, Bisesa?«
»Spüren Sie es nicht?«
»Was?«
Sie starrte in die Kugel. »Ein… Etwas…
eine Präsenz.«
Abdikadir sagte: »Falls das hier die Quelle der
elektromagnetischen Signale ist, die wir
überwachen…«
»Ich höre sie«, flüsterte das
Telefon.
»Mehr als das«, sagte Bisesa. Irgendetwas ist
hier, dachte sie. Eine Bewusstheit… ja. Oder zumindest
eine
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