Die Zeit-Odyssee
die Gegend ausgeblutet. Als
Alexander herkam, war es immer noch eine pulsierende Stadt, aber
ihre besten Zeiten lagen bereits weit in der Vergangenheit. Wir
hingegen sehen sie mehr oder weniger zu ihrer
Blütezeit.«
Josh sah sie prüfend an. »Sie wirken ein bisschen
wehmütig, Bisesa.«
»Ich habe nur nachgedacht.«
»Über Myra?«
»Ich hätte sie furchtbar gern hier… Ihr das
alles zeigen zu können…«
»Vielleicht werden Sie ihr eines Tages davon
erzählen können.«
»Tja, vielleicht.«
Ruddy, Abdikadir, Eumenes und de Morgan waren ihnen etwas
langsamer die Treppe des Zikkurats hoch gefolgt. Ruddy keuchte
zwar, aber er hielt sich tapfer, und als er sich hinsetzte,
klopfte Josh ihm anerkennend auf die Schulter. Eumenes blieb
stehen, offenbar nicht im Geringsten außer Atem, und
ließ den Blick über Babylon schweifen.
Abdikadir lieh sich Bisesas Nachtglas und sah in die Runde.
»Wirf mal einen Blick auf die Westseite des
Flusses…«
Die Linie der Mauern querte den Fluss, um auf der anderen
Seite das zerschnittene Rechteck der Stadt zu
vervollständigen; doch im Westteil der Stadt gab es –
obwohl Bisesa den Eindruck hatte, sie konnte sogar die Linien der
Straßen erkennen – keine andere Farbe als das
Orangebraun gehärteten Schlamms, und von den Mauern ragten
nur noch unregelmäßig gezackte Trümmer auf. Die
Tore und Wachtürme waren zu Schutthaufen zerfallen.
»Es sieht aus«, bemerkte Josh, »als
wäre die halbe Stadt unter der heißen Sonne
geschmolzen.«
»Oder unter einer Atombombe«, ergänzte
Abdikadir grimmig.
Eumenes sprach, und de Morgan übersetzte: »So war
es damals nicht… so nicht…« Während der
Osten der Stadt der zeremonielle und administrative Bereich war,
befanden sich im westlichen Teil die Wohnungen der Bürger;
es war ein dicht besiedelter Bezirk gewesen, mit großen
Häusern, Plätzen und Märkten. Eumenes hatte das
alles erst vor wenigen Jahren mit eigenen Augen gesehen, diese
lebendige, übervölkerte Stadt. Und jetzt war nichts
mehr davon übrig.
»Eine weitere Schnittstelle«, stellte Abdikadir
mit Bitterkeit fest. »Das Herz eines jungen Babylons,
transplantiert in den Leichnam des alten.«
»Ich dachte«, sagte Eumenes, »ich würde
mit diesem Unbekannten, diesen Rissen in der Zeit, von denen wir
heimgesucht werden, einigermaßen gut zurechtkommen. Doch das hier zu sehen – das Herz einer Stadt im Sand
zertreten, das Gewicht von tausend Jahren darüber
hereingebrochen während eines einzigen
Herzschlages…«
»Ja«, sagte Ruddy und nickte. »Die
schreckliche Grausamkeit der Zeit.«
»Mehr als Grausamkeit«, sagte Eumenes.
»Arroganz.«
Bisesa war von den Emotionen des Kanzlers durch
Übersetzung und zwei Millennien Körpersprache getrennt,
doch wiederum meinte sie, eine wachsende kalte Wut in ihm zu
erahnen.
Eine Stimme ertönte von unten herauf – ein
mazedonischer Offizier, der nach Eumenes rief. Ein Suchtrupp
hatte jemanden entdeckt, einen Babylonier, der sich im Tempel des
Marduk versteckt gehalten hatte.
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DAS TOR DER GÖTTER
Der gefangene Babylonier wurde vor Eumenes gebracht. Er war
völlig verängstigt; die Augen in seinem verschmierten
Gesicht waren weit aufgerissen, und zwei stämmige Soldaten
mussten ihn zwischen sich herzerren. Der Mann war zwar in
schweren blauen, mit Goldfäden durchwirkten Stoff gekleidet,
aber seine Robe war zerfetzt und schmutzig und schien zu
groß für ihn, so als hätte er längere Zeit
gehungert. Gesicht und Schädel mochten einst glatt rasiert
gewesen sein, aber nun wuchsen ihm überall schwarze Stoppel,
und seine Haut starrte vor Schmutz. Als er näher
herangeschleppt wurde, zuckte Bisesa zurück, so
überwältigend war der Gestank nach altem Urin, den der
Mann verströmte.
Beflügelt von der unbarmherzigen Spitze eines
mazedonischen Dolches, schnatterte der Gefangene ohne Unterlass,
jedoch in einer antiken Sprache, die keiner verstand. Der
Offizier, der ihn entdeckt hatte, war so geistesgegenwärtig
gewesen, einen persischen Soldaten ausfindig zu machen, der diese
Sprache verstehen konnte, und so wurden die Worte des Babyloniers
für Eumenes ins Altgriechische übersetzt und danach ins
Englische für die Anwesenden aus der Neuzeit.
De Morgan vermittelte das Gehörte zögerlich und mit
gerunzelter Stirn. »Er sagt, er war der Priester
irgendeiner Göttin – der Name ist mir entgangen. Als
die anderen sich am Ende aus dem
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