Die Zeit-Odyssee
er.
»Was?«
»Was aus mir wird… oder besser: geworden
wäre.«
»Keine Zeit, Ruddy.« Als sie die Wunde freigelegt
hatte, sah sie, dass sie größer war als vermutet
– ein roter Krater, aus dem immer noch Blut floss.
»Hier, helfen Sie mir.« Sie nahm seine Hand, presste
sie auf die Umgebung der Wunde und drückte ihren Finger so
fest in das Loch, dass er ganz darin versank.
Ruddy wand sich, aber er schrie nicht auf. Er erschien Bisesa
schrecklich blass. Sein Blut bildete bereits einen kleinen See
unter ihm auf dem Boden des Tempels, einen Spiegel für das
geschmolzene Gold des Gottes. »Die Zeit reicht für
nichts sonst, Bisesa! Bitte!«
»Sie werden sehr geliebt«, sagte Bisesa, immer
noch krampfhaft überlegend, was sie tun könnte.
»Die Stimme einer ganzen Nation, einer ganzen Epoche. Man
kennt Sie überall auf der Welt. Sie werden reich. Immer
wieder werden Ihnen Ehrungen angeboten, aber Sie lehnen alle ab.
Sie helfen, das Leben einer Nation zu gestalten. Sie gewinnen den
Nobelpreis für Literatur. Man sagt von Ihnen, dass jede
Ihrer Äußerungen auf der ganzen Welt vernommen
wird…«
»Ah.« Er lächelte und schloss die Augen.
Bisesa zog den Finger aus der Wunde, und das Blut spritzte wie
zuvor.
Ruddy ächzte. »All diese Bücher, die ich nie
schreiben werde…«
»Aber sie existieren ja schon, Ruddy. Sie sind in meinem
Telefon. Jedes einzelne verdammte Wort!«
»So kann man es wohl auch betrachten – obwohl es
logisch nicht nachvollziehbar ist, wenn der Autor nicht
überlebt, um sie zu schreiben… Und meine
Familie?«
Den Blutfluss auf diese Weise stillen zu wollen, war wie der
Versuch, ein gebrochenes Rohr zu dichten, indem man ein Kissen
darauf drückte. Was sie tun musste, war, die Beinarterie zu
finden und sie direkt abzubinden. »Ruddy, das wird jetzt
höllisch wehtun.« Sie senkte zwei Finger in die Wunde
und riss sie weiter auf.
Sein Rücken streckte sich nach innen durch, und er
verdrehte die Augen. »Meine Familie, bitte.« Seine
Stimme war ein Wispern und so trocken wie Herbstblätter.
Bisesa grub die Finger in sein Bein, suchte in den Schichten
von Fett, Muskeln und Blutgefäßen, aber sie konnte die
Arterie nicht finden. Möglicherweise war sie durchtrennt,
und die Enden hatten sich zurückgezogen. »Ich
könnte es aufschneiden«, murmelte sie, »und nach
der verdammten Arterie suchen. Aber der
Blutverlust…« Sie konnte nicht glauben, wie viel
Blut schon aus diesem jungen Mann geströmt war; es war
überall – auf seinen Beinen, ihren Armen, auf dem
Boden.
»Es schmerzt sehr. Und es ist kalt.« Seine Worte
kamen nur mühsam hervor; er fiel in Schock.
Sie drückte erneut auf die Wunde. »Sie führen
eine lange Ehe«, sagte sie hastig. »Eine
glückliche, glaube ich. Kinder. Ein Sohn.«
»Ja…? Wie ist sein Name?«
»John. John Kipling. Es gibt einen großen Krieg,
der ganz Europa heimsucht.«
»Die Deutschen, vermutlich. Immer die
Deutschen.«
»Ja. John meldet sich freiwillig und kämpft in
Frankreich. Er fiel dort.«
»Ah.« Ruddys Gesicht war jetzt nahezu ohne jeden
Ausdruck, nur sein Mund zuckte. »Wenigstens wird ihm jetzt
diese Qual erspart bleiben – so wie mir… oder doch
nicht? Wiederum diese verflixte Logik. Ich wünschte, ich
könnte es verstehen.« Er riss die Augen auf, und
Bisesa sah darin das Spiegelbild der indifferenten Kugel, des
Auges des Marduk. »Das Licht«, flüsterte Ruddy.
»Das Licht des Morgens…«
Bisesa presste ihre blutige Hand gegen seine Brust. Sein Herz
flatterte und blieb stehen.
Jede Hilfe ausschlagend kletterte Alexander mit steifen
Bewegungen auf das Tor der Ischtar. Er blickte über die
Ebene Richtung Osten, wo die Feuer der Mongolen immer noch
brannten. Die schwebenden Kugeln, die von den Männern
»Augen« genannt wurden und die während der
Kämpfe über das ganze Schlachtfeld verstreut in der
Luft gehangen hatten, waren jetzt verschwunden – alle bis
auf jenes monströse Exemplar im Heiligtum des Marduk.
Vielleicht hatten diese neuen gleichgültigen Götter nun
alles gesehen, was sie sehen wollten.
Tribunale mussten vorbereitet werden. Es hatte sich
herausgestellt, dass dieser sonderbare Engländer namens
Cecil de Morgan den mongolischen Spionen Informationen verkauft
hatte -Informationen, die auch den Verlauf der Strecke
enthielten, auf der Sable Jones so rasch zum Auge des Marduk
gelangt war. Der englische Befehlshaber Grove und diese anderen,
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