Die Zeit-Odyssee
Tochter keinen einzigen
ihrer Art zu Gesicht bekommen. Und durch die Löcher des
Netzes konnte sie auch keine Bäume sehen, keinen heimeligen
grünen Schatten. Falls sie von hier ausbrach, gab es keinen
Zufluchtsort für sie; nichts erwartete sie außer
Knüppel, Fäusten und Gewehrkolben. Diese brutale
Lektion hatte sie bereits gelernt.
In jener Grauzone einer Existenz zwischen Tier und Mensch, in
der sie sich befand, hatte sie nur einen schwachen Begriff von
Zukunft und Vergangenheit. Ihr Gedächtnis war eine Galerie
lebhafter Bilder – das Gesicht ihrer Mutter, die Wärme
des Nests, der überwältigende Geruch des
Männchens, das sie zum ersten Mal genommen hatte, die
süße Pein des Gebärens, die beängstigende
Schlaffheit ihres ersten Kindes. Und ihr unbestimmtes Erahnen
einer Zukunft wurde dominiert von der rudimentären Vision
ihres eigenen Todes – der Furcht vor der Schwärze, die
hinter den gelben Augen von Raubkatzen lauerte. Aber es gab keine
Empfindung für Zusammenhänge in ihren Erinnerungen,
keine Logik, keine Ordnung. Wie die meisten Tiere lebte sie in
der Gegenwart, denn wenn die Gegenwart nicht überlebt werden
konnte, waren Vergangenheit und Zukunft ohnehin bedeutungslos.
Und diese Gegenwart, das hilflose Gefangensein, hatte sich
über ihr ganzes bewusstes Empfinden gelegt und es
eingeschlossen.
Sie war eine Gefangene. Nur das und nicht mehr. Aber
wenigstens hatte sie das Klammerchen.
Und dann, eines Morgens, gab es eine Veränderung.
Es war das Klammerchen, das es zuerst entdeckte.
Die Sucherin wachte nur langsam auf – wie immer wollte
sie diese zusammenhanglosen Traumfetzen von den grünen
Bäumen nicht loslassen. Sie gähnte ausgiebig und
streckte die langen Arme. Die Sonne stand schon hoch am Himmel,
und sie konnte das helle Schimmern durch die Schlitze im Tarnnetz
einfallen sehen.
Ihre Tochter starrte hinauf zum höchsten Punkt des
Zeltes. Licht war auf ihrem Gesicht. Die Sucherin blickte
hoch.
Das Auge strahlte. Es sah aus wie eine Miniatursonne, die sich
im Netz verfangen hatte.
Die Sucherin stand auf. Dicht aneinander geschmiegt und die
Blicke auf das Auge gerichtet, traten Mutter und Kind in
aufrechter Haltung unter das Auge. Die Sucherin langte mit einer
Hand nach oben, doch es war außer Reichweite. Aber unter
seinem Schein warfen ihre beiden Körper Schatten auf den
festgestampften Lehmboden. Das Auge strahlte keine Wärme
aus, nur Licht.
Die Sucherin war gerade erst aufgewacht; sie musste dringend
Blase und Darm entleeren, das Fell auf Zecken untersuchen, die
sich nachts darin festgesetzt hatten, essen und trinken. Doch sie
konnte sich nicht bewegen. Sie stand bloß da mit
aufgerissenen Augen und einem erhobenem Arm. Der Staub kribbelte
ihr in den Augen, aber sie konnte nicht einmal blinzeln.
Dann hörte sie ein leises Wimmern. Sie war nicht imstande
sich umzudrehen, um nach dem Klammerchen zu sehen. Sie hatte
keine Vorstellung davon, wie viel Zeit verstrich.
Ihre Hand war plötzlich vor ihrem Auge, aber sie hatte
sie nicht bewusst gehoben; es war, als würde sie auf die
Hand eines Fremden blicken. Die Finger rollten sich zur Faust,
öffneten sich wieder. Der Daumen bewegte sich vorwärts
und rückwärts.
Etwas veranlasste sie, die Arme zu heben und sie an den
Schultern, Ellbogen und Handgelenken zu drehen. Ihre Beine
beugten sich, streckten sich. Sie lief hin und her, so weit das
Netz es erlaubte – erst aufrecht, dann auf allen vieren
unter Zuhilfenahme der Fingerknöchel. Die Finger tasteten
sich in jede Körperöffnung und untersuchten sie; dann
arbeiteten sie sich über den Brustkasten nach oben,
befühlten die Form des Schädels und wanderten zum
Becken. Es war, als würde jemand anderer dies alles mit ihr
tun, in einer Art roher Fellpflege.
Für die Dauer eines Herzschlages wurden die Affenmenschen
losgelassen, und keuchend, hungrig und durstig wollten sie
einander an den Händen fassen, aber die unsichtbare
Umklammerung packte sie erneut.
Diesmal hockte sich das Klammerchen auf die Hinterbacken und
wühlte im Boden und untersuchte ihn, während
Lichtmuster über die Köpfe der beiden zuckten. Das
Klammerchen fand Zweige und ein paar Strohhalme. Es rieb einen
Zweig am anderen, spaltete und faltete die Halme und schlug
Kiesel klappernd gegeneinander.
Währenddessen marschierte die Sucherin ans Netz. Sie
griff danach und kletterte daran hoch. Ihr Körperbau glich
noch dem ihrer
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