Die Zeit-Odyssee
der
Nachhut verfolgte und sich am Ende des Tages in seine Jurte
zurückzog. Er war fast sechzig Jahre alt und in dieser
Hinsicht vorhersehbar.
Konnte Kolja sich aber nun, nach drei Tagen, der Uhrzeit noch
halbwegs sicher sein? Konnte er sicher sein, dass die schweren
Schritte, die er jetzt da oben spürte, von dem Mann
stammten, den er vernichten wollte? Sein einziges Bedauern galt
dem Umstand, dass er es nie erfahren würde.
Kolja lächelte, dachte an seine Frau und zündete
seine Sprengladung. Er hatte weder Augen noch Ohren, aber er
fühlte, wie die Erde erzitterte.
Abdikadir stand Rücken an Rücken mit einer Hand voll
Briten und Mazedonier und wehrte Mongolen ab, die rund um die
Gruppe herumwirbelten. Die meisten von ihnen waren noch zu Pferde
und hieben von oben herab auf sie ein. Da seine Munition
längst verschossen war, hatte Abdi die Kalaschnikow
weggeworfen und mit Bajonett, Schwert, Lanze und Speer
weitergekämpft – was eben von den fallengelassenen
Waffen der toten Krieger, deren Epochen tausend Jahre trennten,
gerade zur Hand war.
Als ihn das Kampfgeschehen von allen Seiten eingekreist hatte,
war ihm anfangs, als wäre er mit einem Mal lebendiger
geworden – so als hätte sich sein ganzes Leben auf
diesen Augenblick und auf Blut, Schlachtenlärm,
übermenschliche Anstrengung und Schmerz reduziert, wogegen
alles, was sich zuvor zugetragen hatte, kaum mehr als ein Prolog
gewesen war. Doch als die unheilvollen Auswirkungen der
Ermüdung zunahmen, wurde dieses Gefühl intensiver
Vitalität von einer bleiernen Unwirklichkeit verdrängt,
die ihn an den Rand der Ohnmacht brachte. Doch auch daran hatte
das Trainingsprogramm gedacht, das er in der Vergangenheit
absolviert hatte – an diesen Bereich der Erschöpfung,
wo der Körper wie ferngesteuert reagierte, den Schmerz
ignorierte, unempfindlich wurde gegen Hitze und Kälte und
eine neue Art von Bewusstsein einsetzte, eine Art Autopilot. Doch
dieses Wissen machte das alles nicht leichter zu ertragen.
Die kleine Gruppe kämpfte noch ums Überleben,
während rundum die meisten Krieger schon niedergemacht waren
– eine Insel des Widerstandes in einem Meer von Blut,
über das die Mongolen ungehindert hinwegfegten. Auch
Abdikadir hatte zahllose Hiebe abbekommen, und er wusste, viel
länger konnte er nicht durchhalten. Die Schlacht ging
verloren, und er konnte absolut nichts dagegen tun.
Über den Schlachtenlärm hinweg hörte er den Ruf
einer Trompete und unrhythmische Schläge einer
Kriegstrommel. Eine Sekunde lang war er abgelenkt.
Ein Streitkolben sauste vom Himmel herab und schlug ihm den
Krummsäbel aus der Hand. Ein stechender Schmerz durchfuhr
ihn: Ein Finger war gebrochen. Unbewaffnet und mit nur einem
einsetzbaren Arm fuhr er herum und sah einen mongolischen Reiter
vor sich, der sich hoch über ihm aufrichtete und erneut mit
der Waffe ausholte. Abdikadir machte einen Satz nach vorn, seine
unversehrte Hand ausgestreckt und steif wie ein Brett und bohrte
die Finger mit aller Kraft in den Schenkel des Mongolen, dorthin,
wo er ein Nervenzentrum erhoffte. Der Reiter erstarrte und kippte
nach hinten, und sein Pferd bewegte sich unsicher zurück.
Auf den Knien suchte Abdikadir auf dem blutgetränkten Boden
nach dem Säbel, fand ihn und richtete sich auf; schwer
atmend sah er sich nach dem nächsten Angreifer um.
Doch da war keiner.
Die mongolische Kavallerie riss ihre Pferde herum und preschte
in die Richtung davon, wo in der Ferne ihre Lager waren.
Gelegentlich unterbrach einer der Reiter seinen Galoppritt, und
beugte sich hinab, um einen abgeworfenen Kameraden aufzulesen,
dessen Ross ihn im Stich gelassen hatte.
Abdikadir stand keuchend da, den Säbel an sich gepresst
und verstand die Welt nicht mehr. Das Verhalten der Mongolen kam
so überraschend wie eine Flut, die sich plötzlich
umkehrte.
Er vernahm ein leises knallendes Geräusch dicht an seinem
Ohr. Er wusste, was es war, doch sein Hirn schien nur langsam in
Schwung zu kommen, um die Erinnerung auszugraben. Ein Schuss? Eine Kugel! Er drehte sich um, um nachzusehen, woher sie
kam.
Vor dem Ischtar-Tor befand sich die eine, einzige Ausnahme vom
allgemeinen Rückzug. Etwa fünfzig fest im Sattel
sitzende Mongolen stürmten das offene Tor, und jemand in dem
Gedränge, irgendjemand inmitten der Angreifer schoss auf
ihn!
Er ließ den Säbel fallen. Die Welt drehte sich im
Kreis, und Abdikadir sah, wie die blutgetränkte Erde
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