Die Zeit-Odyssee
nach
ihm griff und ihn zu sich hinabzog.
Bisesa hörte das Geschrei und Getöse direkt vor
ihrem provisorischen Lazarett. Sie eilte durch die Tür nach
draußen, um nachzusehen, was los war. Ruddy Kipling, seine
ganze Hemdbrust mit Blut verklebt, folgte ihr auf dem
Fuß.
Eine Horde Mongolen hatte die Verteidigungslinien durchbrochen
und war durch das Tor eingedrungen; die Mazedonier hängten
sich an sie wie Antikörper an einen Infektionsherd,
während ihre Kommandeure Befehle brüllten. Obwohl die
Mongolen wie wild auf alles einhieben, was sie umgab, wurden sie
bereits von ihren Pferden gezerrt.
Doch eine einzelne Gestalt brach aus dem Haufen hervor und
rannte die breite Prozessionsstraße hinab: eine Frau. Die
Mazedonier hatten sie nicht bemerkt – oder wenn sie sie
bemerkt hatten, nahmen sie sie nicht ernst genug, um ihr Einhalt
zu gebieten. Sie trug eine lederne Rüstung, aber ihr Haar
war mit einem hell orangefarbenen Band zurückgebunden.
»Tagesleuchtfarbe«, murmelte Bisesa.
»Verzeihung, was sagten Sie?«, fragte Ruddy.
»Das muss Sable sein! Scheiße, sie rennt zum
Tempel!«
»Das Auge des Marduk…«
»Darum ging es immer nur. Kommen Sie!«
Sie liefen die ehemalige Prachtstraße entlang hinter
Sable her. Besorgt dreinsehende Mazedonier rannten in der
entgegengesetzten Richtung an ihnen vorbei zu dem Tumult am Tor,
und verwirrte babylonische Bürger verkrochen sich in ihre
Häuser. Und teilnahmslos wie Ketten von
Überwachungskameras hingen die Augen über allem.
Erschrocken stellte Bisesa fest, wie zahlreich sie mittlerweile
waren.
Ruddy traf als Erster am Saal des Marduk ein. Das große
Auge schwebte immer noch über der Pfütze aus erstarrtem
Gold, und Sable stand mit zerzaustem Haar und in ihrer
mongolischen Rüstung keuchend davor und starrte hinauf in
ihr verzerrtes Spiegelbild. Sie streckte die Hand nach oben, um
das Auge zu berühren.
Ruddy Kipling trat einen Schritt auf sie zu.
»Gnädigste, Sie sollten das besser lassen,
sonst…«
In einer einzigen Bewegung drehte Sable sich um, hob die
Pistole und schoss auf ihn. In dem kahlen alten Raum wirkte der
Knall besonders laut. Ruddy wurde rückwärts gegen die
Wand geschleudert und sank zu Boden.
Bisesa schrie: »Ruddy!«
Aber die Waffe zeigte schon auf Bisesa. »Stehen
bleiben!«
Hilflos blickte Ruddy zu Bisesa empor, die breite Stirn mit
Schweißtropfen bedeckt, die dicke Brille vom Blut fremder
Menschen verschmiert. Er presste die Hand auf die Hüfte;
zwischen den Fingern floss Blut hervor. Er grinste schief.
»Ich bin getroffen!«
Bisesa wollte zu ihm hineilen, aber sie blieb stehen und hob
die Hände hoch. »Sable Jones.«
»Mein Ruhm eilt mir voraus.«
»Wo ist Kolja?«
»Tot… Ah…« Sie lächelte.
»Das bringt mich auf einen Gedanken. Die Mongolen haben zum
Rückzug geblasen. Und ich dachte an einen Zufall. Aber jetzt
ist mir klar, was passiert sein muss: Dschingis Khan ist tot, und
sämtliche Söhne und Brüder und Feldherren hetzen
zurück zur Quriltai, wo entschieden wird, wer den
Hauptpreis kriegt. Haben das Sozialgefüge einer
Schimpansenhorde, die Mongolen. Und genau wie bei den Affen
werden alle Karten neu gemischt, wenn das Alphamännchen
fällt. Das hat Kolja gegen sie verwendet.« Sie
schüttelte den Kopf. »Irgendwie muss man den
dürren Scheißkerl bewundern. Frage mich nur, wie er
das geschafft hat.« Die Waffe in ihrer Hand regte sich
keinen Fingerbreit.
Ruddy stöhnte.
Bisesa versuchte, sich davon nicht ablenken zu lassen.
»Was willst du, Sable?«
»Was denkst du denn?« Sables Daumen schnellte
über ihre Schulter nach hinten. »Wir konnten das
Signal, das von diesem Ding ausgeht, schon aus dem Orbit
hören. Also, egal, was hier vorgeht, das da ist der
Schlüssel – zur Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft…«
»Zu einer neuen Welt.«
»Klar.«
»Ich glaube, du hast Recht. Ich studiere es schon eine
ganze Weile.«
Sable kniff die Augen zusammen. »In dem Fall kannst du
mir vielleicht helfen. Was sagst du dazu? Du bist entweder
für mich oder gegen mich.«
Bisesa ließ den Blick direkt auf dem
silberglänzenden Ball in der Luft ruhen; ihre Augen weiteten
sich mit einem Mal, und sie lächelte. »Offenbar hat es
bloß auf dich gewartet.«
Sables Kopf fuhr herum. Es war ein simpler Trick, aber Sables
eitles Ego ließ sie in die Falle stolpern – und
schenkte Bisesa diese einzige halbe Sekunde. Länger brauchte
sie auch nicht für
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