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Die Zeit-Odyssee

Die Zeit-Odyssee

Titel: Die Zeit-Odyssee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur C. Clarke , Stephen Baxter
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Zeitlinie folgten. Es war sogar möglich, dass
auf verschiedenen fragmentierten Welten zahlreiche Kopien von
Myra existierten – und auf einigen von ihnen auch Kopien ihrer selbst: Nun, und wie sollte sie mit dieser Vorstellung umgehen? Das Ereignis der Diskontinuität hatte
jegliches menschliche Fassungsvermögen überstiegen, und
der Verlust, den Bisesa erlitten hatte, überstieg die
Grenzen ihrer menschlichen Erfahrung, also gab es für sie
menschlich keinen Weg, damit fertigzuwerden.
    Wenn sie so auf ihrem Strohsack lag und grübelnd die
Nächte durchwachte, spürte sie, wie das Auge sie
beobachtete und sich besonders auf ihre verwirrte Trauer
konzentrierte. Sie fühlte diese Präsenz, aber sie
fühlte kein Mitgefühl davon ausgehen, kein Mitleid, nur
eine lauernde Aufmerksamkeit, ein Wachen aus olympischen
Höhen.
    Dann stand sie gelegentlich auf und schlug mit der Faust gegen
die gleichgültige Haut des Auges oder schleuderte
babylonischen Schutt in seine Richtung. »Ist es das, was du
wolltest? Bist du deshalb hergekommen? Weshalb du unsere Welt und
unser Leben zerfetzt hast? Bist du hergekommen, um mir das Herz
zu brechen? Warum schickst du mich nicht einfach nach
Hause…?«
    Bisesa spürte eine gewisse Empfänglichkeit da oben
– eine Empfänglichkeit, die mehr oder weniger dem Hall
in einer Kathedrale glich, in der sich ihre dünnen Schreie
sinn- und zwecklos verloren.
    Doch manchmal hatte sie den Eindruck, als würde ihr
jemand zuhören.
    Und ganz selten einmal überkam sie das Gefühl, es
könnte – bei allem fehlenden Mitgefühl –
irgendwann eine Reaktion auf ihre beharrlichen Appelle geben.
     
    Eines Tages flüsterte das Telefon: »Es ist
Zeit!«
    »Zeit wofür?«, fragte Bisesa.
    »Ich muss auf Sicherungsmodus gehen.«
    Das kam nicht unerwartet. Der Speicher des Telefons enthielt
einen unschätzbar wertvollen, unersetzlichen Datenschatz
– nicht nur ihre, Bisesas, Beobachtungen des Auges und eine
Aufzeichnung der Geschehnisse rund um die Diskontinuität,
sondern die letzte Dokumentation der Kostbarkeiten der alten
dahingegangenen Welt, darunter nicht zuletzt die Werke des armen
Ruddy Kipling. Aber es gab keine Möglichkeit, die Daten
anderswo hinzuladen oder sie wenigstens auszudrucken. Bisesa
hatte das Telefon für die Zeiten, wenn sie schlief, auch
einem Team britischer Kanzlisten überlassen, die unter
Abdikadirs Aufsicht mit der Hand verschiedene Dokumente,
Diagramme und Landkarten kopierten. Das war besser als gar
nichts, und der leistungsfähige Speicher des Telefons war
dadurch kaum angeritzt worden.
    Jedenfalls waren Bisesa und das Telefon übereingekommen,
dass es sich inaktivieren sollte, sobald die Kapazität der
Batterien auf ein gewisses kritisches Niveau sank. Die beinahe
unbegrenzte Konservierung der Daten sollte kaum mehr als Spuren
von Energie verbrauchen – bis zu einem Zeitpunkt, zu dem
die neue Population von Mir die Fähigkeit erreicht haben
würde, sich Zugriff auf die kostbaren Erinnerungen des
Telefons zu verschaffen. »Und dich wieder zum Leben zu
erwecken«, hatte Bisesa dem Telefon versprochen.
    Es war alles ganz logisch. Aber nun, da der Moment gekommen
war, verspürte Bisesa schmerzliche Hilflosigkeit.
Schließlich war dieses Telefon seit ihrem zwölften
Lebensjahr ihr ständiger Begleiter gewesen.
    »Du musst auf die Tasten drücken, um mich
auszuschalten«, sagte es.
    »Ich weiß.« Sie hielt das kleine Ding hoch
und suchte, reichlich verlegen über ihre plötzlich nass
gewordenen Augen, die richtige Tastenkombination und hielt inne,
ehe sie sie drückte.
    »Tut mir Leid«, sagte das Telefon.
    »Ist ja nicht dein Fehler.«
    »Bisesa, ich fürchte mich.«
    »Das brauchst du nicht. Ich grabe dich ein, wenn es
nötig ist, und überlasse dich den
Archäologen.«
    »Das meine ich nicht. Ich war noch nie abgeschaltet.
Glaubst du, ich werde träumen?«
    »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. Sie
drückte die Tastenkombination, und das Display des Telefons,
das im Dämmerlicht des Tempelraumes grün geleuchtet
hatte, wurde schwarz.

 
{ 39 }
VORSTÖSSE
     
     
    Nach einem sechsmonatigen Erkundungsstreifzug durch
Südindien kehrte Abdikadir nach Babylon zurück.
    Eumenes lud ihn zu einem Rundgang durch die sich langsam
erholende Stadt ein. Es war ein kalter Tag. Obwohl nach den
Berechnungen der babylonischen Astronomen, die geduldig die
Bewegung der Sonne und der Sterne über diesen neuen Himmel
verfolgten,

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