Die Zeit-Odyssee
Maschinenpistolen, Leuchtkugeln und ähnlichen
Dingen des einundzwanzigsten Jahrhunderts, die sie aus dem
Hubschrauber geholt hatten, auch nur zu nähern. Aber der
Umstand, dass Casey ein weißer Amerikaner war und sowohl
Bisesa als auch Abdi als einer »verbündeten«
Rasse angehörig betrachtet werden konnten, half diesen
Briten aus dem neunzehnten Jahrhundert ganz offensichtlich dabei,
sie drei leichter zu akzeptieren. Hätte die Besatzung des
Vogels etwa aus Russen, Deutschen oder Chinesen bestanden –
und auf dem UNO-Stützpunkt Clavius gab es eine Menge davon
–, wäre die Haltung gewiss feindseliger gewesen.
Aber wenn Bisesa solche Dinge durch den Kopf gingen, war sie
immer wieder fassungslos angesichts der Tatsache, dass es
überhaupt zu solchen Betrachtungen kommen konnte –
über das Aufeinandertreffen von Kulturen aus dem neunzehnten
und dem einundzwanzigsten Jahrhundert. Die ganze Angelegenheit
war surreal; Bisesa hatte das Gefühl, im Innern einer
Seifenblase spazieren zu gehen. Und sie war immerzu erstaunt
darüber, wie mühelos jedermann sonst die Situation zu
akzeptieren schien – die schonungslose, anscheinend
unbestreitbare Realität etlicher Zeitsprünge –
von hundertfünfzig Jahren in ihrem Fall, von
möglicherweise einer Million Jahre oder mehr im Fall
der unglücklichen Pithecinin und ihres Kleinen im
Netzkäfig.
Abdikadir sagte: »Ich glaube, die Briten begreifen das
alles überhaupt nicht, und wir begreifen es nur zu gut. Als
H. G. Wells 1895 – zehn Jahre nach diesem Zeitpunkt
hier! – seine Zeitmaschine veröffentlichte,
brauchte er zwanzig oder dreißig Seiten, um der Leserschaft
zu erklären, was eine Zeitmaschine ist. Wohlgemerkt nicht,
wie sie funktioniert, sondern einfach nur, was sie tut! Für uns hat es einen langen Akklimatisierungsprozess
gegeben, und nach einem Jahrhundert Science Fiction ist der
Durchschnittsmensch mit der Idee der Zeitreise auf du und du und
in der Lage, auch sämtliche Implikationen zu akzeptieren
– seltsam insofern, als man die Sache erst einmal
tatsächlich durchleben müsste.«
»Aber das trifft nicht auf diese viktorianischen Briten
zu. Für die wäre ein Ford-T-Modell ein sagenhaftes
Wundergefährt aus der Zukunft.«
»Klar. Und ich glaube, dass die Zeitdefekte und ihre
Implikationen einfach über die Vorstellungskraft dieser
Leute hinausgehen… Aber falls H. G. Wells jetzt hier
wäre – hat er Indien eigentlich je besucht? –,
dann würde sein Hirn wohl bersten beim Gedanken an Bedeutung
und Tragweite dessen, was gerade geschieht…«
Keine dieser rationalistischen Überlegungen schien Bisesa
zu helfen. Vielleicht war es in Wahrheit so, dass Abdikadir und
alle anderen ebenso empfanden wie sie und das nur besser zu
verbergen wussten.
Ruddy jedoch fühlte ganz offen mit ihr und hatte
großes Verständnis für ihre Verunsicherung. Er
gestand ihr, dass er gelegentlich unter Halluzinationen litt.
»Als Kind war ich in England bei einer Pflegefamilie
untergebracht und sehr unglücklich dort. Einmal schlug ich
auf einen Baum ein. Sonderbares Benehmen, dachten alle, aber
niemand wollte begreifen, dass ich den Versuch machte
herauszufinden, ob es meine Großmutter war! Viel
später dann, in Lahore, bekam ich Fieberanfälle, welche
möglicherweise auf Malaria zurückzuführen waren,
und seit damals kehrt gelegentlich meine Melancholie zurück.
Ich weiß also, wie es ist, wenn man vom Irrealen geplagt
wird.« Wenn er zu ihr sprach, beugte er sich konzentriert
vor, während seine Augen, verzerrt durch die Brille, deren
Linsen Josh »Flaschenböden« nannte, sie
fixierten. »Aber für mich haben Sie eigentlich so gar
nichts Irreales an sich, und so sage ich Ihnen, was man dagegen
tun kann: Arbeiten!« Er streckte kurze, tintenbefleckte
Finger hoch. »Sechzehn Stunden an manchen Tagen! Arbeit,
das beste Bollwerk gegen die Irrealität!«
So lief sie ab, die Sitzung über die Natur der
Realität beim neunzehnjährigen Therapeuten Rudyard
Kipling. Bisesa verließ sie benommen und konfuser als
zuvor.
Als weitere Tage vergingen und weder die Briten aus der
viktorianischen Ära noch Bisesa und ihre Kameraden
Verbindung zu ihren jeweiligen Heimatwelten aufnehmen konnten,
wurde Hauptmann Grove von großer Sorge erfasst.
Dafür gab es sehr praktische Gründe: Die
Vorräte hier in der Festung würden nicht mehr lange
reichen. Außerdem war Grove auch abgeschnitten von dem
riesigen
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