Die Zeit-Odyssee
steckt?«
Niemand antwortete.
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DIE LETZTE UMKREISUNG
Plötzlich war der Moment gekommen, in dem sie die letzte
Umkreisung der Erde begannen – vielleicht die letzte
Umkreisung, die je von Menschenwesen unternommen wird, dachte
Kolja wehmütig. Aber die notwendigen Vorbereitungen blieben
immer die gleichen, und als die oft geübte Routine
einsetzte, begannen die drei so perfekt zusammenzuarbeiten wie
nie zuvor seit Beginn dieses seltsamen unerwarteten Abenteuers.
Kolja hatte das Gefühl, diese Routinetätigkeiten
wirkten ermutigend auf alle drei Besatzungsmitglieder.
Die erste Aufgabe bestand darin, den Aufenthaltsraum mit
Abfall vollzustopfen – wozu auch die Verpackungen der
Notrationen für die Zeit nach der Landung gehörten, die
bereits aufgebraucht waren. Ihr Funkgerät verstaute Sable im
Landeteil der Kapsel, denn das konnte ihnen möglicherweise
noch gute Dienste leisten.
Als die Zeit gekommen war, die Anzüge anzulegen,
benutzten sie abwechselnd den Aufenthaltsraum. Kolja war der
Letzte; er zog die elastischen Hosen an, die eng genug waren, um
die Körperflüssigkeit Richtung Kopf zu drücken
– was mithelfen sollte, eine Bewusstlosigkeit nach der
Landung zu vermeiden. Sehr nützlich, aber auch sehr
unbequem. Als Nächstes zwängte er sich in den
Raumanzug, in den er durch ein Loch in Gürtelhöhe
hineinsteigen musste. Das feste, gummiartige Material der
Innenschicht des Anzuges war luftdicht, die Außenschicht
aus einem widerstandsfähigen Gewebe mit Taschen, Zippen und
Laschen versehen.
Unter normaler Schwerkrafteinwirkung wäre es fast
unmöglich gewesen, den Anzug ohne Hilfe der Bodencrew
anzulegen. Aber hier schlug er mit den Armen so lange um sich,
bis seine Beine dort waren, wo sie hingehörten, die Arme in
den Ärmeln steckten und der Rücken glatt anlag. Kolja
war gewöhnt an diesen Anzug, der sogar schon seinen Geruch
angenommen hatte; im Katastrophenfall würde er sein Leben
retten. Aber nach der Freiheit der Gewichtslosigkeit hatte Kolja
den Eindruck, im Innern eines Traktorreifens festgezurrt zu
sein.
Als er fertig war, ließ er sich wieder hinab zu den
anderen, und sie schnallten sich an. Musa wartete, dass sie Helme
und Handschuhe anlegten, und führte einen Test zur
Überprüfung der Dichtheit der Anzüge durch.
Zum letzten Mal überflog die Sojus Indien, und ihr Signal
erreichte Jamrud. Der kleine Lautsprecher, den Sable an ihr
Funkgerät angeschlossen hatte, begann zu knistern.
»… Othic ruft Sojus, bitte kommen! Sojus, hier
Othic, bitte kommen…«
»Sojus hier, Casey«, rief Musa. »Wie geht es
unserem treuen Verbindungsoffizier heute?«
»Der Regen geht mir auf den Sack. Was wichtiger ist: Wie
steht’s bei euch?«
Musa warf einen Blick auf seine Besatzung. »Wir sind
zusammengequetscht wie drei Wanzen in einer Teppichfalte. Alle
Systeme arbeiten perfekt, trotz der zusätzlichen Zeit, die
wir im Orbit waren. Wir sind bereit für den
Abstieg.«
»Die Sojus ist ein zäher alter Vogel.«
»Das ist sie wirklich. Wird schwer sein, sich von ihr zu
verabschieden.«
»Musa, es ist dir doch klar, wir haben keine
Möglichkeit, euch zu verfolgen. Wir werden nicht wissen, wo
ihr runterkommt.«
»Aber wir wissen, wo ihr seid«, entgegnete Musa.
»Wir finden euch schon, mein Freund!«
»So Gott und Karl Marx wollen.«
Mit einem Mal hatte Kolja den dringenden Wunsch, diesen
Kontakt nicht verloren gehen zu lassen. Es war ihnen allen
bewusst, dass Casey und seine Leute auch nur eine Hand voll
Gestrandeter waren, so verloren und hilflos wie sie auch. Aber
wenigstens war Caseys Stimme eine Stimme aus dem
einundzwanzigsten Jahrhundert, die vom Boden aus zu ihnen sprach.
Sie war wie eine Berührung mit der Heimaterde.
»Ich möchte etwas sagen.« Musa richtete das
kleine Mikrophon zurecht. »Casey, Bisesa, Abdikadir –
und Sable und Kolja, ich spreche zu euch allen. Wir sind weit weg
von zu Hause. Wir sind auf einer Reise, deren Ziel wir nicht
einmal ahnen. Und ich denke, es steht fest, dass diese neue Welt,
die aus Schnipseln von Raum und Zeit zusammengeflickt ist, nicht die unsere ist. Sie besteht aus Teilen der Erde,
aber es ist nicht die Erde. Also finde ich, wir sollten diese
neue Welt, unsere Welt, nicht mehr ›Erde‹ nennen.
Wir brauchen einen neuen Namen.«
»Und zwar?«, fragte Casey.
»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Musa. »Mir. Wir sollten diesen neuen Planeten
›Mir‹
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