Die Zeit-Odyssee
hätte er zu diesem Zeitpunkt eigentlich
in einem Krankenhaus sein müssen, umgeben von der
medizinischen Technik des einundzwanzigsten Jahrhunderts, um mit
einem Physiotherapie- und Stärkungsprogramm zu beginnen;
stattdessen steckte er hier in einem Winkel dieses stinkenden
Zeltes fest. Er war schwach wie ein uralter Mann und
gegenüber diesen stämmigen, kräftigen Mongolen
völlig hilflos; er verspürte nicht nur Angst, sondern
auch heftigen Groll.
Er versuchte nachzudenken, eine Bestandsaufnahme seiner
Umgebung zu machen.
Die Jurte war abgenutzt, aber robust. Vielleicht gehörte
sie dem Häuptling dieser kleinen Gemeinde. Ihre
Hauptstütze bestand aus einer stabilen Stange, und leichtere
Stäbe und Rippen aus Holz trugen die Filzkuppel. Verdreckte
Matten bedeckten den Boden, und Eisentöpfe und Ziegenfelle
hingen an Haken. Entlang der Jurtenwand standen Truhen aus Holz
und Leder – die Möblierung eines umherziehenden
Volkes. Die Jurte hatte kein Fenster, nur ein Loch genau
über der steinernen Feuerstelle, wo trockene Dungfladen
glosten.
Anfangs machte sich Kolja Gedanken, wie die Jurte auseinander
genommen und wieder aufgestellt werden konnte – und das
mindestens zweimal im Jahr, wenn die Nomaden zwischen ihren
Sommer- und Winterweiden hin und her zogen. Doch dann bemerkte er
draußen einen breiten Karren, der in einiger Entfernung
abgestellt war. Seine Ladefläche war groß genug, um
darauf die ganze Jurte mitsamt ihrem Inhalt bequem transportieren
zu können.
»Aber das haben sie nicht immer gemacht, die
Mongolen«, flüsterte Kolja Sable ins Ohr. »Nur
im frühen dreizehnten Jahrhundert! Zu jeder anderen Zeit
haben sie ihre Jurten zerlegt wie Zelte und gefaltet
mitgeführt. Das gibt uns also einen Zeitrahmen… Wir
sind mitten im Mongolenreich gelandet, als es auf dem Gipfel
seiner Macht stand!«
»Ein Glück, dass du so viel von ihnen
weißt.«
Kolja grunzte abfällig. »Ein Glück? Sable, die
Mongolen sind in Russland eingefallen – zweimal! So
etwas vergisst man nicht, nicht einmal nach acht
Jahrhunderten!«
Nach einiger Zeit machte eine Frau Anstalten, eine Mahlzeit
zuzubereiten. Sie schleppte einen großen Eisentopf herbei,
und in den Topf kam ein halbes Schaf, das sie vorher zerhackte
– nicht nur Fleisch und Knochen, sondern auch Lunge, Magen,
Hirn, Gedärme, Hufe und Augen: Offensichtlich wurde nichts
weggeworfen. Die Frau hatte ein Gesicht wie aus Leder und Arme
wie eine Kugelstoßerin. Während sie sich ihrem halben
Schaf widmete, schenkte sie Sable und Kolja nicht die geringste
Beachtung, ganz so, als wären zwei Fremdlinge aus der
Zukunft, die sich in einen Winkel ihrer Jurte drückten, ihr
täglich Brot.
Die gestrandeten Kosmonauten taten ihr
Menschenmöglichstes, um die Gewöhnung an die gnadenlose
Anziehungskraft der Erde voranzutreiben, indem sie wiederholt die
Gelenke streckten und des Öfteren ihre Lage
veränderten, um die unterschiedlichen Muskelgruppen zu
schonen. Ansonsten konnten sie nichts tun, außer darauf zu
warten, dass dieser Bote von seinem Ritt zur lokalen
Autorität zurückkehrte und ihrer beider Schicksal
entschieden würde – ein Schicksal, das war Kolja
durchaus klar, das auch den Tod bedeuten konnte. Doch trotz
dieser trüben Aussichten überkam ihn, als der
Nachmittag sich endlos dahinzog, zu seinem eigenen Erstaunen
Langeweile.
Die Masse aus Fleisch und Innereien im Topf brodelte etwa zwei
Stunden lang. Dann kamen nach und nach Erwachsene und Kinder in
die Jurte, von denen manche noch mehr Fleisch brachten –
Stücke, die aussahen wie Füchse, Mäuse und
Kaninchen, schlampig abgehäutet und nicht gesäubert.
Kolja sah Sand und geronnenes Blut an den Kadavern.
Zur Essenszeit stürzte die Horde einfach herein,
schöpfte mit hölzernen Schüsseln ein paar
Fleischklumpen aus dem Topf und aß mit den Fingern. Dazu
tranken sie etwas, das aussah wie Milch und aus einer
schwitzenden Ziegenhaut gegossen wurde. Gelegentlich, wenn sie
draufkamen, dass ihnen der Geschmack eines Fleischstückes
nach ein paar Bissen nicht zusagte, warfen sie es zurück in
den Topf und spuckten ein paar Knorpel hinterher.
Fassungslos verfolgte Sable das Geschehen. »Und sie
haben sich vor dem Essen nicht mal die Hände
gewaschen!«
»Für die Mongolen besitzt Wasser göttliche
Reinheit«, erklärte Kolja. »Man sollte es nicht
besudeln, indem man es zum Waschen verwendet.«
»Wie halten sie sich dann
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