Die Zeit-Odyssee
Während er dalag, ohne ein Auge zuzutun, fragte Kolja sich,
was wohl aus Casey geworden war.
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DAS DELTA
Als er das Frühstück beendet hatte, entließ
Kanzler Eumenes seine Pagen. Er warf den purpurnen Umhang
über die Schultern, hob die schwere lederne Eingangsklappe
des Zeltes und trat ins Freie.
Die Wolken hatten sich verzogen und einen blassblauen,
ausgebleicht wirkenden Himmel hinterlassen, aus dem heiß
die Sonne schien. Aber wenigstens hat es doch einmal
aufgehört zu regnen, dachte Eumenes. Doch als er nach
Westen, Richtung Meer, blickte, sah er bereits wieder schwarze
Wolken herandräuen, und da wusste er, dass das nächste
Unwetter im Anzug war. Selbst die Eingeborenen, die sich um das
Heerlager drängten und Glücksbringer, allerlei Tand und
die Körper ihrer Kinder verhökerten, behaupteten, noch
nie solches Wetter erlebt zu haben.
Eumenes machte sich auf den Weg zu Hephaistions Zelt. Das
Vorwärtskommen war schwierig, denn der Boden war
durchnässt und zu weichem, gelbem Morast geworden,
aufgewühlt von Männerfüßen und Pferdehufen,
der an Eumenes’ Reitstiefeln kleben blieb.
Rundum stieg der Rauch von tausend Feuern zum bleichen Himmel.
Die Männer kamen aus ihren Zelten und trugen
schlammbeschmutzte Kleider und Ausrüstung ins Freie. Einige
waren gerade dabei, ihre Bartstoppeln abzukratzen: Der Auftrag,
stets glatt rasiert zu sein, war einer der ersten Befehle
gewesen, die der König nach der Übernahme des Heeres
von seinem ermordeten Vater erlassen hatte, um zu verhindern,
dass den Feinden die Möglichkeit geboten wurde, die Soldaten
am Bart festzuhalten.
Wie üblich jammerten die Mazedonier – über
diesen neumodischen griechischen Brauch und über den
miserablen Zustand dieses barbarischen Ortes, an den der
König sie geführt hatte.
Soldaten murrten zwar immer gern, doch als die Flotte hier im
Delta angekommen war, nachdem sie vom Lager des Königs aus
den Indus hinabgesegelt war, hatte selbst Eumenes Entsetzen
verspürt über die Hitze, den Gestank und die Wolken von
Insekten, die über dem sumpfigen Gelände hingen. Doch
Eumenes war stolz auf seine Selbstdisziplin: Ein einsichtiger
Mann fuhr fort, seine Aufgabe zu erledigen, ohne sich vom Wetter
stören zu lassen. Auch auf Gottkönige regnet es ab und
zu herab, dachte er.
Hephaistions Zelt war eine imposante Angelegenheit, weitaus
imposanter als jenes von Eumenes – ein Beweis für die
Gunst, die der König seinem engsten Gefährten erwies.
Der Wohnbereich war von einer Reihe von Vorplätzen und
Vorräumen umgeben und wurde von einer Abteilung
Schildträger bewacht – der Eliteinfanterie des Heeres,
die den Ruf hatte, die beste Fußtruppe der Welt zu
sein.
Als sich Eumenes dem Zelt näherte, wurde er von der Wache
aufgehalten; der Posten war natürlich Mazedonier.
Selbstverständlich kannte er Eumenes, und dennoch stand er
nun mit erhobenem Schwert vor dem Kanzler. Eumenes wich keinen
Schritt zurück und wandte auch den Blick nicht ab, und
schließlich trat der Soldat zur Seite.
Die Feindseligkeit eines mazedonischen Kriegers gegenüber
einem griechischen Heeresverwalter war so gottgegeben wie das
Wetter – auch wenn es von Ignoranz diktiert wurde: Wie, so
fragte sich Eumenes des Öfteren, stellten sich diese
Halb-Barbaren eigentlich vor, dass der große Armeeapparat
das regelmäßige Eintreffen von Proviant und damit ihr
Wohlergehen sicherte, für Organisation und den rechten Weg
sorgte, wenn nicht durch die gewissenhafte Tätigkeit von
Eumenes’ Verwaltung? Ohne einen Blick zurück schritt
Eumenes weiter ins Zelt.
In der Vorhalle sah es aus wie in einem Schweinestall. Diener
und Pagen ordneten Tische, sammelten Tonscherben und zerrissene
Kleider auf und säuberten den Boden von verschüttetem
Wein und etwas, das aussah wie blutfleckiges Erbrochenes.
Augenscheinlich hatte Hephaistion vergangene Nacht für seine
Kommandeure und andere »Gaste« ein Fest gegeben.
Hephaistions Türhüter war ein kleiner, dicker,
umtriebiger Mann mit sonderbar rötlich blondem Haar. Nachdem
er Eumenes präzise so lange in der Vorhalle hatte warten
lassen, wie nötig war, um seine eigene Stellung zu
unterstreichen, verbeugte er sich und winkte Eumenes durch in
Hephaistions Privatgemächer.
Hephaistion lag auf seinem Ruhebett, leicht bedeckt mit einem
Laken und immer noch im Nachthemd. Er war der Mittelpunkt aller
Geschäftigkeit im Raum: Diener legten Kleider
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