Die Zeit-Odyssee
geben.«
Fünfhundert Meter von Jamrud entfernt errichteten
Alexanders Männer ihr Lager. Bald brannten die Feuer, und
die übliche einzigartige Mischung aus Heerlager und
Wanderzirkus kam zum Vorschein. An diesem ersten Abend herrschte
noch großes Misstrauen zwischen den beiden Seiten, und
britische und mazedonische Truppen patrouillierten ohne Unterlass
entlang einer unsichtbaren Grenze, die offenbar in
stillschweigendem Übereinkommen festgelegt worden war.
Doch am zweiten Tag begann das Eis zu brechen. Eigentlich war
es Casey, der den Anfang machte. Nachdem er eine Zeit lang in der
Grenzzone gestanden und auf einen kleinen, kurzbeinigen
Mazedonier hinabgestarrt hatte, der aussah wie fünfzig,
forderte Casey ihn mit der entsprechenden Gestik zu einer
Rangelei heraus. Bisesa wusste sofort, was es damit auf sich
hatte; es war ein alter Brauch bei manchen Militäreinheiten:
Man veranstaltete einen einminütigen Ringkampf – ohne
Regeln, alles erlaubt, was sonst verboten war – und
versuchte nur, den Gegner so rasch wie möglich windelweich
zu prügeln.
Ungeachtet seiner Provokation war jedermann klar, dass Casey,
einbeinig, wie er war, für solch einen Kampf nicht die
rechte Form mitbrachte. Also sprang Korporal Batson für ihn
in die Bresche. So wie er dastand, nur in Hosen und
Hosenträgern, hätte er fast ein Zwillingsbruder des
stämmigen Mazedoniers sein können. Sogleich sammelte
sich eine Zuschauermenge an, und sobald der Kampf begonnen hatte,
erhob sich anfeuerndes Geschrei der jeweiligen Seite für
ihren Champion. »Gib ihm, Joe!« und »Alalalalai!« Casey nahm die Zeit und brach
nach der vorgeschriebenen Minute ab. Da hatte Batson schon eine
Anzahl Körperhiebe kassiert, und die Nase des Mazedoniers
sah gebrochen aus. Es gab keinen klaren Gewinner, aber Bisesa
spürte, dass ein widerwilliger. Respekt entstanden war, die
simple Achtung eines kämpfenden Soldaten für den
anderen. Genau wie von Casey beabsichtigt.
Für das nächste Match gab es keinen Mangel an
Freiwilligen. Als ein Sepoy jedoch aus seinem Kampf mit
einem gebrochenen Arm hervorging, traten die Offiziere
dazwischen. Aber auf Vorschlag der Mazedonier begann ein neuer
Wettbewerb, diesmal hieß er Sphaira. Dieses
traditionelle mazedonische Spiel wurde mit einem ledernen Ball
ausgeführt – eine Pack-ihn-und-renn- Angelegenheit,
die ein wenig dem britischen Rugby oder dem amerikanischen
Football ähnelte, nur bei weitem brutaler gespielt
wurde. Casey trat wiederum in Aktion, markierte das Spielfeld,
handelte die Regeln aus und machte den Schiedsrichter.
Später versuchten ein paar Tommies, den Mazedoniern die
Kricketregeln zu erklären. Werfer schleuderten einen harten,
vom oftmaligen Gebrauch eingebeulten Korkball über ein
rechteckiges Spielfeld, das durch improvisierte Torstäbe an
den kurzen Seiten gekennzeichnet war, und die Schlagmänner
schwangen ihre hausgemachten Schläger mit Hingabe.
Bisesa und Ruddy blieben stehen und sahen zu. Das Spiel ging
gut voran, auch wenn die Regel, dass der Schlagmann draußen
ist, falls er einen gerade geworfenen Ball mit dem Bein
aufhält und so verhindert, dass der das Tor trifft, eine
echte Herausforderung an die pantomimischen Fähigkeiten der
Tommies darstellte.
Und all dies spielte sich direkt unter einem schwebenden Auge
ab. Ruddy schnaubte streng. »Der menschliche Geist
verfügt über eine erstaunliche Kapazität,
Absonderlichkeiten zu schlucken.«
Ein wilder Schlag schleuderte den Ball hoch in die Luft, wo er
mit dem über allem hängenden Auge kollidierte. Es
klang, als wäre er gegen eine Felswand geprallt. Der Ball
sprang in die Hand eines Feldspielers zurück, der
triumphierend die Arme hochwarf, weil er den Schlagmann
ausgefangen hatte. Bisesa sah, dass der Treffer dem Auge offenbar
nichts ausgemacht hatte.
Die Kricketspieler hingegen fielen in einem
streitsüchtigen Knäuel übereinander her. Ruddy
rümpfte die Nase. »Soweit ich es erkennen kann, liegen
sie sich in den Haaren über die Frage, ob ein Abprallen vom
Auge gewertet wird oder nicht.«
Bisesa schüttelte den Kopf. »Ich habe Kricket noch
nie begriffen.«
Dank all dieser Initiativen hatte sich am Ende des zweiten
Tages die gespannte Nervosität und stumme Feindseligkeit
zwischen den beiden Lagern weitgehend gelegt, und Bisesa war gar
nicht überrascht, als sie Tommies und Sepoys erblickte, die unauffällig ins mazedonische Lager
verschwanden. Die
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