Die Zeitbestie
einer verbissenen Entschlossenheit, am Leben zu bleiben, befreite sich Tack von Jacke und Schuhen und schwamm auf den kaum sichtbaren Deich zu – den ursprünglichen Deich, der nach der Rückgewinnung ein gutes Stück im Binnenland gestanden hatte. Jahre an körperlicher Schulung, sowohl per Computerverbindung als auch im Feld, versetzten Tack in die Lage, dieses Ziel durch die kalte raue See zu erreichen, was viele andere womöglich nicht geschafft hätten. Nachdem er sich durch eine Matte aus Blasentang gekämpft hatte, zog er sich müde auf die mit Platten ausgelegte Deichflanke und hustete Rückstände von brennendem Salz aus den wunden Lungen. Die Hand tat weh, und er fühlte sich fiebrig.
Als er den Stachel aus dem Handgelenk ziehen wollte, sah er, dass der sich zu einer kleinen, harten Platte von den Ausmaßen einer Heftzwecke verbreitert hatte und jetzt mit winzigen haarähnlichen Dornen besetzt war, die seine Finger blutig stachen, als er das Ding herauszuziehen versuchte. Es löste sich ein Stück weit wie Schorf, aber als er losließ, um einen besseren Griffansatz zu finden, zog es sich von allein wieder ins Fleisch zurück. Als er einen erneuten Versuch mit der Messerspitze unternahm, stellte er fest, dass es überhaupt nicht mehr zu bewegen war. Das Ding hatte sich jetzt mit den Handgelenkknochen verbunden. Er kletterte auf die Deichkrone und sah sich um, und er zitterte dabei in den nassen Sachen.
Jetzt wurde ihm klar, dass er mindestens 150 Jahre weit in der Vergangenheit sein musste, noch vor dem Amtsantritt der U-Reg. Sein EL lebte noch gar nicht, und weder Tacks Programmierung noch seine Ausbildung boten Möglichkeiten, diese Situation zu verarbeiten. Er versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, und als Erstes wollte er es warm und trocken haben. Er war auch hungrig und durstig. Sich um diese Bedürfnisse zu kümmern, das ermöglichte ihm seine Basisprogrammierung.
Da sich die durchnässten Kniestiefel wie Bleifolie um ihre Beine schlossen, bemühte sich Polly, sie auszuziehen, ohne dabei weiteres Meerwasser zu schlucken. Endlich war sie sie los und schwamm mühsam zu einem Ufer hinüber, das sich im orangefarbenen Licht des Sonnenuntergangs abzeichnete. Sie fühlte sich entsetzlich müde, aber sie begriff endlich, was der Killer mit seiner kürzlichen Äußerung gemeint hatte: Wenn du noch weiter zurückgehst, wird diese Gegend zehn Meter tief im Meer liegen. Sie hatte eine Zeitreise in die Vergangenheit unternommen, genau wie in den Filmen und den Interaktiven. Aber in keinem davon war die Heldin gleich nach dem Übergang ertrunken – stets erreichte sie irgendeinen riesig interessanten historischen Zeitpunkt, wo sie wichtige Ereignisse der bekannten Geschichte beeinflussen konnte.
Als sie dem Ufer näher war, erblickte sie Holzgerüste, an denen bösartige Rollen aus Stacheldraht befestigt waren. Hinter dieser Abwehrlinie ragte eine Holzhütte auf Stelzen auf, darunter ein Sandsackbunker, aus dem erkennbar der Doppellauf einer Kanone ragte.
Zweiter Weltkrieg, vermute ich mal. Keine großen Flugzeugangriffe im Ersten.
»Was?«, brachte sie hervor und schluckte Wasser. »Was?«
Das ist ein Flugabwehrgeschütz. Das lautmalerische Ack-ack, denke ich mir.
Polly hatte derzeit wirklich nicht genug Luft, um ein Gespräch mit Muse zu führen, und sie brachte auch nicht die Kraft auf, sich zu fragen, warum das am Halsansatz haftende Gerät mit Nandrus Stimme einen solchen Plauderton ihr gegenüber anschlug. Sie kämpfte sich weiter voran und spürte dabei, wie ihre Kraftreserven allmählich zu Ende gingen. Außerdem bemerkte sie, dass sie – falls sie sich überhaupt noch bewegte – eher wieder weiter vom Ufer abkam. Vielleicht war das jedoch eine Illusion, erzeugt von der herabsinkenden Abenddämmerung. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und das Ufer zeichnete sich vor dem Hintergrund eines hellroten und mattgrauen Himmels ab. Hinter sich hörte sie das tiefe Dröhnen von Motoren, blickte zurück und sah eine Staffel Bomber, die in der tiefer werdenden Dunkelheit nur ansatzweise erkennbar wurden.
Na, das sind wohl Heinkels mit ihrer Messerschmitt-Eskorte, scheint es. Das bestätigt die Sache.
»Nandru … Nandru, bist du das?«, brachte sie heraus.
Sie hörte auf zu schwimmen, um lieber Wasser zu treten, und stellte entsetzt fest, dass sie aufs Meer hinausgezogen wurde. Die Flugzeuge waren inzwischen näher, und plötzlich blendeten Polly tastende Lichtbalken. Der
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