Die Zeitbestie
Eindringen der Vorpalknoten herrührten. Sie war derlei Aufmerksamkeit jedoch gewöhnt und kümmerte sich nicht weiter darum, während sie über die bevorstehende Verschiebung der Stadt nachdachte. Goron hatte sie vorzeitig gerufen, denn von allen Interface-Technikern traute er ihr am meisten. Somit hatte sie eine Stunde lang oder noch länger Zeit, um die Daten der verschiedenen Vorpalsensoren zu sichten, die in der Zeit und auf verschiedenen Alternativlinien verstreut waren. Das war vielleicht der schönste Teil ihrer Arbeit – dieser Voyeurismus.
Sobald sie den Aufzugsschacht erreicht hatte, betrat sie die Plattform, und während diese sie nach oben trug, fuhr sie sich mit der Hand über die Kopfhaut. Sie hatte leichte Kopfschmerzen, wie heutzutage fast immer, denn es blieb nie genug Zeit für die vollständige Ausheilung der Schäden, die von den eindringenden Glasfasern der Knoten verursacht wurden. Als sie von der Plattform stieg, bemerkte sie, dass Goron noch nicht aus der Halle der Stützpfeiler zurückgekehrt war. Sie nickte Palleque zu – der anscheinend immer hier war –, nahm Kurs auf die Interface-Wand und sah, dass sich einer der übrigen Techniker bereits eingeklinkt hatte.
Der Mann stand dort, Kopf und Schultern von der Vorpalsphäre umschlossen, die außerdem randvoll war von durchscheinenden und durchsichtigen Mechanismen. Durch die entsprechende Sichtverzerrung gewann man albtraumhafte Eindrücke vom offenen Schädel, von glasartigen Röhren und Stangen, die unmittelbar mit rohem, freiliegendem Hirn verbunden waren. Aus der Rückseite der Sphäre lief eine Masse aus gerippten Glasleitungen am Rücken hinab und erinnerte dabei an eine Zweitwirbelsäule; am unteren Ende mündete sie in einen von Lichtflecken durchsetzten Sockel und von dort aus im Fußboden. Von dieser Zweitwirbelsäule aus breiteten sich Vorpalstreben aus wie die Flügelknochen eines Rochens und mündeten in diversen Mechanismen an den Wänden ringsherum, an Decke, Fußboden und angrenzender Connectware. So hatte es den Anschein, als schwebte der Mann im Zentrum eines seltsamen Mandalas – die menschliche Wolke in fremdartiger, glasartiger Perfektion.
Silleck nahm Kurs auf die mittlere der drei Sphären an der Wand, direkt neben dem Mann, und duckte sich, um den Kopf von unten ins gallertartige Material zu schieben. Als sie den Rücken an die stützende Glaswirbelsäule drückte, spürte sie sofort, wie Kopf und Gesicht taub wurden. Gesicht und Gehör verblassten. Schmerzen spürte sie nicht, wohl aber das Zupfen, als automatische Anlagen ihre Kopfhaut öffneten, die Halteschrauben des falschen Schädeldachs lösten und Knoten aus Vorpalglas hineintrieben. Als sich das Sehvermögen zurückmeldete wie das Bild eines defekten Monitors, wusste sie, dass sich die Fasern von den Knoten ausbreiteten, und sie hörte einen Dinosaurier brüllen. Bald sah sie das Bild aus der Grundeinstellung ihrer Ausrüstung: ein Bild von außerhalb von Sauros.
Die Verbindung festigte sich jetzt, und dieses Bild fächerte durch die Zeit aus, sodass Silleck Sauros über einen Zeitraum von Stunden in Vergangenheit und Zukunft sah und begriff. Und als wäre das nicht genug, blickte sie auch das Wahrscheinlichkeitsgefälle hinauf und hinab und sah mögliche Städte, eine Landschaft des Vielleichts sowie Dinosaurier, die womöglich existiert hätten. Ohne die Connectware und die technischen Puffer, die sie einhüllten, hätten solche Einblicke sie in den Wahnsinn getrieben.
Schließlich hatte Silleck ihre Verbindung stabilisiert und konzentrierte sich auf Spezifisches, da eine solch umfassende Perspektive derzeit noch keinen Sinn machte – das war erst während einer Stadtverschiebung oder eines Angriffs der Fall. Als sie die Gegenwart und nahe Zukunft sondierte, fand sie nichts, was sie interessiert hätte, und so machte sie sich daran, sich auf die Tachyonenfrequenzen der näher gelegenen Vorpalsensoren einzuschwingen.
Aus einem dieser Sensoren empfing sie das Bild eines Jungen, der von ein paar frühen Cro-Magnon-Frauen verfolgt wurde. Das hatte Silleck jedoch schon alles gesehen, und daher wusste sie, dass er mit dem gebratenen Eichhörnchen, das er vom Lagerfeuer der Frauen gestohlen hatte, entkommen würde. Dann würde er unter einem Dornenbusch schlafen und von seinem Torus weiter in die Vergangenheit gezogen werden, zu irgendeinem Zeitpunkt jenseits der verfügbaren Sensoren. Solche Individuen waren ohnehin nie interessant gewesen, denn
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