Die Zeitbestie
der Junge stammte eindeutig aus der Zeit des Neurovirus und würde nicht mehr viele Zeitsprünge überleben. Nein, das Bild aus dem nächsten Sensor war es, was Silleck am meisten interessierte.
Das Mädchen faszinierte sie, und Silleck hatte noch nicht genug Freizeit gehabt, um sich alles anzusehen, was dem Mädchen auf dem jüngsten kurzen Sprung widerfahren war. Schon der eigentliche Sprung war interessant, denn beide Enden lagen in der zehntausend Jahre umfassenden Lebensspanne dieses speziellen Sensors. Silleck konzentrierte ihre Wahrnehmung, verband sich mit dem Sensor zum Ende seiner Lebenserwartung hin und folgte ihm dann in die Vergangenheit, bis sie gefunden hatte, was sie suchte.
Das Mädchen Polly drehte sich gerade um und kramte in ihrem Mantel nach der Automatikpistole, mit der sie, wie Silleck gesehen hatte, ein paar hunderttausend Jahre in der Zukunft auf einen Gaukler geschossen hatte. Die Kälte drang schon unter die unzulängliche Kleidung vor, und die Hand des Mädchens zitterte, als sie mit der Waffe in den Schleier des Schneesturms zielte. Silleck stellte den Sensor um und betrachtete das Tier da draußen mit Infrarot. Sie hörte das gedämpfte Tapsen der schweren Tatzen, gefolgt von leisem Knurren. Das Mädchen drückte ab, fluchte dann über sich selbst und tastete mit zitternden Fingern nach dem Sicherungshebel. Aus dem Schneetreiben ragte eine riesige, zottige Gestalt mit gewaltigen, unrealistisch wirkenden Zähnen auf. Polly feuerte einen Schuss ab, und in dem Dämmerlicht überlagerte der Mündungsblitz einen Augenblick lang das Bild, das Silleck empfing, sodass die Technikerin den knurrenden Rückzug des Tieres nicht miterlebte.
Polly blickte hinter sich und bemerkte vielleicht zum ersten Mal, dass sie am Rand einer Klippe stand, über die der Sturm hinwegfegte. Tief unten breitete sich eine Eissteppe aus, über die eine Herde Wollmammuts wanderte. Polly drehte sich um, hörte zweifellos, wie sich das Tier, das Silleck deutlich sehen konnte, heimlich heranpirschte. Die Kreatur war riesig, und der Schuss hatte sie nur richtig wütend gemacht, wie die Technikerin bemerkte.
»Wirklich, und dabei hatte ich mir nur überlegt, wo ich eine Skihütte finde«, sagte Polly laut.
Dieser scheinbar verrückte Monolog war es, der Sillecks Aufmerksamkeit ursprünglich geweckt hatte, damals im Wald, wo das Mädchen dem Gaukler begegnete. Erst nach weiterer Sondierung stellte die Technikerin fest, dass Polly eine Art KI mitführte, die einen ziemlich fortgeschrittenen Eindruck machte für die Zeit, aus der das Mädchen stammte.
Polly schloss jetzt die Augen, und Silleck bemerkte, wie das temporale Netz auf den Willen des Mädchens reagierte und sie in den Interraum zog. Sie verschwand nur Augenblicke, ehe das Tier, ein riesiger Bär, aus dem Sturm hervorsprang, an der Klippe rutschend zum Halten kam und sich verwirrt umblickte. So weit war Silleck auch schon zuletzt gekommen, als sie durch diesen Sensor blickte. Jetzt zog sie sich entlang seiner Zeitlinie zu seiner Ankunft zurück, nachdem er von Neulondon aus in die Vergangenheit geschossen worden war, und folgte dann der Linie zeitaufwärts zur temporalen Signatur von Pollys Eintreffen etwa fünftausend Jahre später.
Das Mädchen tauchte mitten in der Luft auf, denn der Torus war bei dem kurzen, erzwungenen Sprung nicht fähig gewesen, sich auf Bodenhöhe anzupassen. Sie fiel zu Boden, rollte sich ab und suchte verzweifelt nach der Waffe, die sie gerade fallen gelassen hatte. Die Pistole lag auf einer Eisfläche, unter der sich träge Wasserpflanzen und kleine Fische bewegten. Sobald Polly die Pistole wieder gepackt hatte, sah sie sich um.
Sie stand auf derselben Klippe wie zuvor, aber diesmal gab es weder einen Schneesturm noch ein großes Tier, nur Gestein und Erde und das nackte Skelett eines Baums, den ein ständiger Eiswind seiner Rinde beraubt hatte – all das unter einem blassen Himmel. Polly knöpfte ihren Mantel zu und entfernte sich von der Kante. Sie fror immer noch, wie Silleck feststellte – das Mädchen hatte es fertig gebracht, eine kurze Periode zwischen zwei Eiszeiten zu verfehlen.
»Yeah, yeah, du und meine Mutter auch«, sagte Polly laut.
Die Sonde war technisch nicht so ausgereift, dass sie auch den Gesprächspartner Pollys hätte hören können. Silleck beherrschte jedoch ihren Ärger und sah weiter zu, während sich Polly von der Klippe entfernte. Wenig später erreichte das Mädchen einen Geröllhang, der zu einem
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